Musiker Abi Wallenstein trägt den Blues nicht nur im Herzen, sondern auch im Geburtsdatum. Nach Hamburg kam er wegen eines Auto-Kennzeichens. Ein Porträt von Jenny Bauer.

Ein Blues ist meist aus zwölf Takten aufgebaut; acht Schläge pro Takt. Abi Wallenstein ist am 8. 12. 1945 geboren. Selten ist die Floskel „es wurde ihm in die Wiege gelegt“ so berechtigt wie in diesem Fall. Der Blues-Musiker mag diese kleinen Kuriositäten in seiner Biografie. „Das ist eine lustige Geschichte“, sagt er schmunzelnd und erfreut sich noch einen Moment schweigend daran.

Abi – er legt Wert darauf, beim Vornamen genannt zu werden – wurde in Jerusalem geboren. Die jüdischen Eltern waren 1933 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland dorthin geflohen. Besonders gerne verbrachte der Junge seine Zeit im Garten der Familie zwischen alten Bäumen, Rosenbeeten und der mit Efeu bewachsenen Laube. Gleich nebenan war ein Kino, in dem auch Konzerte stattfanden. Oft saß Abi dann draußen und lauschte der Musik.

Ende der 50er-Jahre, Abi war gerade zwölf Jahre alt, beschloss die Familie, nach Deutschland zurückzukehren. „Das Schwerste war für mich der Abschied von meinen Freunden“, sagt er. „Aber ich habe den Umzug für mich in eine große Abenteuerreise umgemodelt.“ Die Familie zog wieder nach Neuss am Rhein, wo dem Vater, einem Arzt, 1933 von den Nazis die Praxis geschlossen worden war. Nun durfte er wieder praktizieren – in demselben Gebäude wie damals. Um die historische Bedeutung all dieser Vorgänge wusste der Junge nicht. „In dem Alter habe ich mich mit so was noch nicht so sehr beschäftigt. Da haben mich vornehmlich andere Sachen interessiert.“ Malen zum Beispiel. Und bald auch das Musizieren.

Mit 13 Jahren sah Abi im Kino den Rock-’n-’Roll-Film „The Tommy Steele Story“ und wurde sofort in den Bann der Musik gezogen. „Es war dieses Kraftvolle, Wilde und Spontane, das mich fesselte.“ Er wünschte sich eine Gitarre, und bis er die bekam, stellte er sich oft mit einem Federballschläger ans Zimmerfenster und rockte für ein Fantasie-Publikum draußen auf der Straße. Als er endlich das Instrument bekommen hatte, spielte er mit ein paar Kumpels Skiffle. In jener Zeit, Abis früher Jugend, geschahen zwei Dinge, die sein Leben grundlegend beeinflussten: Er entdeckte den Blues und – er verknallte sich in ein Mädchen.

Zum Blues brachte ihn ein Musiklehrer, als er Abis Klasse einmal ein Stück von Big Joe Turner vorspielte. „Das ist mir richtig unter die Haut gegangen“, sagt der heute vielfach preisgekrönte Musiker, der seit nunmehr fast 50 Jahren auf der Bühne steht. „Der Blues ist ein Gerüst und erlaubt in sich die größtmögliche Freiheit zur Ausgestaltung.“ Man müsse die jeweils aktuelle eigene Befindlichkeit hineinlegen sowie die des Publikums erspüren und in die Musik integrieren. „Blues funktioniert erst, wenn diese Wechselwirkung vorhanden ist“, sagt Wallenstein. Der Blues passt zu ihm – und er zum Blues.

Vielleicht auch deshalb, weil Abi an sich kein Mensch fester Abläufe ist. Wenn er kocht, kombiniert er Rezepte, lässt etwas weg, gibt etwas anderes dazu. Nie schmeckt bei ihm eine Lasagne wie die andere. Er mag es, in verschiedenen Formationen zu spielen, und ein durchorganisierter, gleichförmiger Alltag mit Arbeitszeiten von neun bis 17 Uhr wären ihm ein Graus. Er braucht das Feedback des Publikums. „Ich habe sehr feine Antennen“, sagt er. Damit nimmt er nicht nur wahr, was sein Publikum empfindet, sondern zum Beispiel auch, wenn sich bei einem privaten Essen ein Streit anbahnt. Er erzählt dann schnell einen Witz, um die Situation zu beruhigen, statt das Feuer weiter zu schüren. Wer ihm zuhört, kann sich das gut vorstellen. Abi redet ruhig, fast schon schüchtern, und formuliert dabei sehr, sehr höflich.

„Ich bin ein eher harmonischer Mensch“, sagt Abi. „Aber das hat auch Grenzen.“ Er erinnert sich an ein Konzert vor gut zehn Jahren. Der Musiker spielte gerade eine sehr gefühlvolle Ballade, während ein paar Zuschauer sich an der Bar am Ende des Saals lautstark unterhielten. Wallenstein hielt inne, legte die Gitarre auf den Boden, ging durchs Publikum zu der Bar und fragte die Männer, was das sollte. Die guckten ihn verduzt an und hielten ab sofort die Klappe. „Das war einfach so respektlos gegenüber der Musik.“

Fast eineinhalb Dutzend Alben hat Abi inzwischen veröffentlicht. Doch nichts geht dem Mann, der schon für Weltstars wie Joe Cocker und Johnny Winter als Support auftrat und der den Beinamen „Vater der Hamburger Blues-Szene“ bekam, über den Liveauftritt. „Die Leute sollen direkt erleben, wie ein Ton beim Zupfen einer Saite entsteht und wie unterschiedlich er klingen kann“, sagt er. „Es geht um lebendige Musik, nicht um Perfektion. Ich suche das perfekt Unperfekte.“

Was ihn bei Konzerten jedoch zunehmend stört, ist, dass er immer häufiger auf Handykameras statt in die Gesichter des Publikums blickt, eine Unart. „Das ist wie mit diesen Touristen, die vor lauter Fotografieren eine Landschaft gar nicht mehr richtig sehen.“

Aber da war ja neben der Entdeckung des Blues noch ein zweites Jugenderlebnis, das ihn nachhaltig geprägt hat – und das den Jungen in Neuss auf Hamburg neugierig macht: Als 14-Jähriger verliebte er sich in ein Mädchen, das regelmäßig vor seinem Fenster vorbeiging. Nie hätte er es angesprochen. Dafür war er zu schüchtern. Das Mädchen wurde oft von seinem Vater abgeholt, der einen weißen Borgward mit „HH“-Kennzeichen fuhr. „Seitdem hatte Hamburg etwas sehr Verheißungsvolles für mich.“ So irrational der Gedanke, war er trotzdem einer der entscheidenden Gründe, dass Abi 1965 zum Soziologie-Studium an die Elbe ging. Und tatsächlich entdeckte er hier etwas Verheißungsvolles: „Das war eine glückliche Fügung, denn in Hamburg entwickelte sich gerade diese tolle Musikszene.“

Abi schmiss bald das Studium und verdiente sein Geld in einer Siebdruckerei. Es war nur ein Job, nicht seine Berufung. Die war die Musik. Tagsüber schuftete er in der Druckerei, nachts stand er auf den Bühnen der Stadt, unter anderem mit Musikern wie Inga Rumpf, Peter Urban und Vince Weber. Das Geld war knapp – so knapp, dass Abi sich keine Alben kaufte, sondern sie im Plattenladen anhörte. Etwa zur gleichen Zeit lernte er seine heutige Frau kennen. Sie ist Regisseurin. „Wir führen beide ein recht wirbeliges, unstandardisiertes Leben. Sie mit der Hektik der Premieren, ich mit meinen gut 100 Konzerten jedes Jahr europaweit.“

Anfang der 80er kam Abi der Gedanke, dass er es auch hauptberuflich als Musiker schaffen könnte. Er hatte sich inzwischen einen Namen gemacht, und die Siebdruckerei wurde geschlossen. „Ich weiß, dass ich auch viel Glück hatte“, sagt er. Vielleicht liegt es daran, dass Abi die Menschen nicht nur gegen Geld an seiner Musik teilhaben lassen will. 2001 gab er ein Konzert in der Obdachloseneinrichtung Pik As. Während der 68er-Proteste spielte er auf Kundgebungen in Hamburg. Und auch Gefängnisse und Kliniken gehören zu seinen Bühnen. Seit 1986 macht Abi regelmäßig Straßenmusik. „Die Straße ist die härteste Bühne der Welt“, sagt er. „Erst wer es da schafft und das Publikum zum Zuhören bringt, darf sich als richtiger Musiker bezeichnen.“

Er selbst hört neben Blues vor allem Barockmusik. „Die ist zwar viel strenger als das interpretationsoffene Blues-Gerüst, geht mir aber ebenso ins Herz.“ Ansonsten verbringt Abi seine Freizeit mit Fotografieren und Lesen oder in Cafés. Dementsprechend bunt gemischt ist seine Liste der Menschen, die ihn inspirieren. „Wie viele kann ich nennen?“, fragt er auf die Frage nach Namen zurück. „Franz Kafka, Blind Willie Johnson, Nelson Mandela ...“

Gab es denn auch Rückschläge in seinem Leben? Abi schüttelt erst den Kopf, klopft dreimal auf den Tisch, überlegt und sagt dann: „Außer einmal.“ 1995 wurden Knoten an seiner Schilddrüse festgestellt, zum Glück gutartige, die aber trotzdem wegmussten. Sechs Jahre hat Abi nach dem richtigen Arzt gesucht. „Ich hatte große Angst, dass meine Stimmbänder unter der Operation leiden würden.“ Bis er den Hamburger Chirurgie-Professor Jochen Kußmann kennenlernte. „Da hat es irgendwie sofort gefunkt“, sagt Abi und grinst.