Ein Kind ist das größte Glück, heißt es. Aber es passiert auch, dass Eltern ihr Kind verlieren, bevor es auf die Welt gekommen ist. So, wie bei Tamara und Steffen. Wie hält eine Beziehung das aus?

Eine Packung Wiener Würstchen, aus Bio-Fleisch, dazu eine Flasche Ketchup und Schokolade liegen in Tamaras Einkaufswagen. Nervennahrung, die braucht sie jetzt. Und einen Schwangerschaftstest. Sie geht zurück in ihr Büro nahe der Hamburger Uni. „Ein letztes Mal mache ich den bescheuerten Test“, sagt Tamara zu einer Freundin am Telefon. Sie hatte aufgehört die Tests zu zählen und das Geld, das sie dafür in den vergangenen Monaten ausgegeben hatte. Ein letztes Mal also! Verdammt, sie wünscht es sich doch so sehr, ein Kind. Es ist März 2010.

Im Sommer 2013 steht das Foto von Stine im Esszimmer auf der Fensterbank von Tamaras und Steffens Wohnung. 15 mal 10 Zentimeter groß, schwarz-weiß. Stine hat die Augen geschlossen, die Haare sind noch nass, ihre Lippen dunkel. Stines Gesicht ist von einer weißen Decke umhüllt. Sie war gerade ein paar Stunden auf dieser Welt, als die Hebamme im Elim-Krankenhaus in Eppendorf das Foto machte. Eine Welt, die Stine nie gesehen hat. Ihr Leben begann mit dem Tod.

Tamara holt eine Kiste aus dem Regal, so groß wie ein Schuhkarton, aus hellblauer Pappe. „Unsere Stine-Kiste“, sagt sie. Tamara und Steffen bewahren dort Briefe der Freunde, Fotos von der Urne aus hellem Holz, Ultraschall-Bilder auf. Auch eine Haarsträhne liegt in der Kiste und ein Papier mit ihrem kleinen Fußabdruck. „Stine hat Spuren hinterlassen“, sagt Steffen. Auch wenn sie nie durch die Wohnung gelaufen ist.

„Schaut euch das gerne alles an“, sagt Tamara. Sie hat auch nichts dagegen, dass die Hebamme, die Ärztin aus dem Krankenhaus und Freunde über ihre Geschichte sprechen. Sie und Steffen wollen sich nicht vergraben mit ihrem Schicksal. Sie wollen davon erzählen. Und damit auch ein Tabu brechen, unter dem sie selbst gelitten haben.

Auf dem Tisch liegen Kekse, Tamara kocht Milchkaffee. Viele Erinnerungen der beiden an die Schwangerschaft sind taghell. Sie sitzen am Esstisch, sprechen ruhig, manchmal nachdenklich, dann lachen sie wieder, als Tamara erzählt, wie Steffen einmal neben ihr auf dem Sofa saß und nicht so richtig wusste, was er Stine sagen soll, im kugeligen Bauch der Mama. Aus der Kiste holt Tamara dann noch ein Buch, blau gebunden, ein Stück Leinen klebt auf dem Buchdeckel, „Stine“ steht dort. Es ist ihr Schwangerschafts-Tagebuch.

Eintrag vom 30. Dezember 2010: „Ich stehe im Dunkeln und habe keine Ahnung, wohin mich mein Weg führt, in welche Richtung ich gehen soll. Ich weiß nur, dass ich gehen muss. Denn Stillstand oder das Verharren in der Dunkelheit bedeutet definitiv meinen Untergang, meinen Tod auf dieser Erde.“ Stine ist da gerade zwei Monate tot.

Tamara hat dunkles Haar, braune Augen, ist schlank, eine ehrgeizige junge Frau. Im Beruf wie im Leben. Sie studiert Germanistik und Kulturwissenschaften in Marburg, macht schnell Karriere als selbstständige Agentin für Autoren, reist zur Buchmesse nach Frankfurt. Mit zwei anderen Studenten hatte sie 2002 ein Literatur-Café eröffnet, das „Mathilde“ im Grindelviertel.

Sie tanzen zu den Beatles, küssen sich. Vater werden? Steffen ist nicht sicher

Und seit einiger Zeit kommt dieser junge Mann zu ihr ins Café. Fast jeden Tag, mal mit seiner zehn Jahre alten Tochter, mal mit Labrador Strolch, mal mit beiden. Steffen hat blondes Haar, Drei-Tage-Bart, ist 32 Jahre alt. Er bestellt sich einen doppelten Espresso oder einen österreichischen Wein, den „Blauen Zweigelt“, und schreibt an seiner Doktorarbeit. Manchmal geht seine Tochter Sophie mit Strolch Gassi. Steffen und Tamara kommen ins Gespräch. Er nennt sie bald nur noch Tammy.

Steffen und Tamara gehen ins Kino, picknicken im Park, tanzen in Clubs auf der Reeperbahn. Steffen liebt die Beatles, Tamara mag Wir sind Helden. Sie küssen sich am Elbstrand. „Weißt du, Sophie, Papa hat sich verliebt“, sagt Steffen zu seiner Tochter, als sie mal wieder mit dem Hund draußen sind. „Hab ich mir doch längst gedacht, Papa.“ Im November 2006 ziehen Tamara und Steffen zusammen.

Von Kindern mit Tamara will Steffen nichts wissen. Sophie wurde geboren, als er 19 Jahre alt war und noch in einer anderen Beziehung. Steffen war ein Teenager, aber lebte ein Reihenhausleben in Halstenbek. Sie spielten Mutter, Vater, Kind – bis die Beziehung am Erwachsenwerden zerbrach. Mit dem Kinderkriegen hat er abgeschlossen. Eigentlich. Tamara aber spricht darüber, wenn beide abendessen oder im Bett liegen, wenn sie im Auto unterwegs sind oder im Urlaub. Doch Steffen braucht Zeit. Noch einmal von vorne anfangen? „Schaffe ich das?“

Ein Kind, das größte Glück. So sagt es die Religion, so erzählen es Väter und Mütter, so inszeniert es die Werbung. Dass das Kind vor den Eltern stirbt, ist nicht vorgesehen in dieser Erzählung. Nicht in der Religion, nicht in der Werbung. Ein Kind, es kann der größte Schmerz sein. Tamara und Steffen werden beides erleben. Glück und Schmerz.

Zwei Striche. Schwanger. „Oh Gott! Oh Gott! Oh Gott!“, schreibt Tamara später in ihr Tagebuch. Sie läuft im Büro hin und her, sie weint. Dann ruft sie Steffen an. „Es war so unwirklich und das Größte.“ Fruchtbar sein, Mutter zu werden, eine Familie zu gründen. Tamara ist 32 Jahre alt.

„Haben wir denn jetzt den richtigen Namen ausgesucht? Stine Maria Gailberger – oder sollte doch Paula mit rein?“, schreibt Tamara im September 2010, gut einen Monat vor dem Stichtag. Sie arbeitet die letzte Woche im Kulturbüro, übergibt die Geschäfte an ihre Kollegin. Zuhause richten sie Stine schon mal ihr Leben ein, schreiben eine Besorgungsliste, kaufen einen Kinderwagen, Babydecke, Windeln. „Ich verabschiede mich vom alten Leben? Ist das übertrieben? Ich bin verwirrt...“

Am 22. Oktober 2010 besucht Tamara die Frauenärztin: Herztöne bestens, Fruchtwasserstand gut, der Muttermund einen Zentimeter geöffnet. Alles super, wie bei allen 15 Vorsorgeuntersuchungen. Tamara dehnt in diesen Tagen den müden Körper beim Schwangerschafts-Yoga. Ihre Ziehmutter Eva kommt zu Besuch, sie schauen den „Tatort“ im Fernsehen. „Abends bade ich und trinke ein Glas Sekt“, schreibt sie. „Ich will nicht mehr schwanger sein!“, ruft sie in die Stille des Badezimmers. Stine ist zwei Tage über der Zeit.

Heute, im Sommer 2013, wäre Stine fast drei Jahre alt. Sie würde durch die Wohnung toben, auf dem Teppich mit dem Hund raufen, sie hätte Freunde in der Kita. Papa spielt ihr Lieder auf der Gitarre vor, Mama liest sie abends in den Schlaf. Aber von Stine steht nur das Foto in der Wohnung. Wenn Tamara und Steffen vom 29. Oktober 2010 erzählen, kämpfen beide mit den Tränen.

Der 29. Oktober 2010 ist ein Freitag. Am Tag vorher war Tamara noch einmal beim Frauenarzt, Stines Herz schlug normal. Nur Tamara hatte verdammte Kopfschmerzen, ein Fußbad und kühle Wickel halfen. Freitagmittag gehen sie in Stellingen spazieren. Tamara spürt Stine nicht mehr, keine Tritte, keine Bewegung. Sie fühlt sich nicht gut dabei.

Abends essen sie Spaghetti mit Scampi und schauen eine DVD, „Der Pate“, Teil 1. Dann platzt die Fruchtblase. Tamara rennt ins Badezimmer.

Im Fruchtwasser ist Blut.

Steffen ruft den Krankenwagen, er legt Tamara im Flur ein Kissen unter ihr Becken, wie sie es gelernt haben im Vorbereitungskurs, er holt die Tasche für das Krankenhaus mit Zahnpasta und Wechselkleidung. Die Sanitäter kommen mit der Trage nicht in den dritten Stock, Tamara läuft selbst die Treppe runter, ihren Mutterpass in der Hand, die Krankenkassenkarte in der Tasche. Jede Stufe schmerzt.

Der Kreißsaal im Elim-Krankenhaus ist abgedunkelt. Tamara legt sich von der Trage auf das Bett, die Hebamme schließt das CTG-Gerät an ihren Körper an. Es misst die Häufigkeit der Wehen der Mutter. Und es soll die Herztöne des Babys messen.

Stille.

Vielleicht hat sich das Baby weggedreht, sagt die Hebamme. Vielleicht ein Fehler am Gerät. Dann holt sie die Oberärztin. Steffen sitzt neben Tamara, umarmt sie, hält ihre Hand. Die Ärztin kommt, eine Frau Anfang 30, sie fährt mit dem Ultraschall-Gerät über Tamaras Bauch. Das CTG zeigt eine Null an. Stille. Nur die Gedanken sind laut: Das ist ein falscher Film, ein Albtraum, alles wird gut! Komm schon! Komm schon! Tamara und Steffen schauen nicht auf die Anzeige, sondern nur in das Gesicht der Ärztin. Sie schluckt, blickt noch mal rüber auf das CTG, dann legt sie ihre Hand auf Tamaras Knie.

„Liebeskummer fühlt sich an wie ein kleiner Tod – das hingegen ist ein riesiger Friedhof, dessen Ende nicht sichtbar ist“, wird Tamara später in ihr Tagebuch schreiben. „Mein altes Ich ist mit ihr gegangen.“

„Tot geboren“ sagen Mediziner, wenn ein Baby im Mutterleib oder während der Geburt stirbt und mehr als 500 Gramm gewogen hat, „still geboren“ nennen es die Betroffenen. Oder auch „Sternenkind“. Weil das Leben so kurz war wie das Aufblitzen eines Sternes. Jedes Jahr werden rund 3000 Kinder bundesweit tot geboren. Im Elim-Krankenhaus ist Stine 2010 eines von drei Sternenkindern.

Es ist schon weit nach Mitternacht. Ärzte und Hebamme schlagen Tamara vor, das tote Kind zur Welt zu bringen, auf natürlichem Weg. Die Geburt könne auch ein Art des Abschieds sein. Und schon eine erste Heilung. Aber Tamara kann das nicht, will das nicht: Stine tot gebären. Auch Steffen sieht, wie erschöpft Tamara ist. Die Ärzte geben ihr ein Medikament zur Beruhigung. Sie schläft bald ein. Morgens holen die Ärzte Stine per Kaiserschnitt, Tamara ist unter Vollnarkose.

Als Tamara im Operationssaal liegt, läuft Steffen raus aus dem Krankenhaus, am Kaiser-Wilhelm-Ufer entlang, an der Synagoge vorbei, irgendwohin, dann setzt er sich auf eine Bank im Park und ruft seine Mutter an, Tamaras Vater, zwei beste Freunde, den Sohn von Tamaras Ziehmutter.

Seine Worte sind immer die gleichen. „Wir haben Stine verloren.“

Abschluss-Bericht vom 30. Oktober 2010 – Lebendgeburt: nein, um 10.04 Uhr, Geschlecht: weiblich, Körpergewicht: 3600 g, Länge: 54 cm. Geburtsmodus: prim. Sectio. Mit Handschrift steht dort unter Besonderheiten: Insertis velamentosa. Eine seltene Fehlbildung der Nabelschnur. Sie ist nicht richtig an den Mutterkuchen angewachsen. Wenn sich kurz vor der Geburt der Druck im Fruchtwasser ändert, reißt die Nabelschnur. Stine ist verblutet, noch in der Gebärmutter. Am Abend vor der Geburt.

Abschied im „Raum der Stille“, am Tag nach dem Kaiserschnitt: Ein kleines Zimmer mit einem Fenster, gerahmte Bilder an der Wand und in der Ecke ein kleiner Altar aus Holz. Davor steht ein schwarzes Kreuz. Stine liegt in einem Korb, eingewickelt in eine weiße Decke. Die Hebamme hat Kerzen angezündet. Tamara sitzt im Rollstuhl, noch beruhigt von der Narkose. Steffens Tochter, Freunde und Tamaras Ziehmutter sind gekommen, auch die Oberärztin. Steffens Großvater ist da, 93 Jahre alt, er schüttelt den Kopf. „Ich bin alt, ich hätte gehen müssen. Nicht du.“

Tamara und Steffen hatten Angst, dass sich Stine anfühlt wie eine Puppe

Minutenlang schauen sie schweigend in Stines Gesicht. Tamara streichelt über die Haut, die dunklen Haare, stupst die kleine Nase an, zeichnet mit den Fingern über ihre geschlossenen Augen. Tamara ist in diesem Moment auch stolz auf ihr Kind.

In den Arm nehmen können die Eltern ihre Tochter nicht. Tamara und Steffen haben Angst vor der Leichenstarre, davor, dass sich das eigene Kind anfühlt wie eine steife, leblose Puppe. Erst später erfahren sie, dass Säuglinge nicht erstarren. Die Hebamme hatte Stine eine Haarsträhne abgeschnitten. Später werden Tamara und Steffen ihr Kind anfassen können – auch wenn es nur eine Locke ist.

„Warum, Stine, bist du gegangen?“, fragen sie. „Warum nur?“ Am Tag nach der Totgeburt segnet die Seelsorgerin im Krankenhaus das Kind. Sie sagt: Fragen Sie nicht, warum. Fragen Sie: Wozu? Weil das Wozu in die Zukunft weist. Und sie sagt: Sie können ruhig sauer auf Gott sein. Der hält das aus!

Fünf Tage betreuen Ärzte und Hebamme Tamara in der Klinik. Steffen fährt in dieser Zeit mit Verwandten in die Wohnung nach Eimsbüttel. Sie wischen das Blut vom Boden. Sie bauen den Wickeltisch ab, das Kinderbett, packen das Spielzeug in Kisten und tragen alles hoch auf den Dachboden. Nur die Babysachen will Tamara selbst einpacken, Stines Leibchen, die Strumpfhosen, den Schlafsack. Dann ziehen beide für einige Tage zu Steffens Mutter.

Die Autos fahren auf den Straßen von Eimsbüttel, wie immer, der Bäcker verkauft Brötchen, Menschen spazieren, es regnet. Die Welt ist laut. Zu laut, findet Tamara.

Hunger – egal. Rausgehen – keine Kraft. Musik hören – keine Lust. Reden – hilft eh nicht. Arbeiten – schon gar nicht. Aber die Ordnung da draußen nimmt keine Rücksicht auf das innere Chaos. Steffen und Tamara müssen jetzt die Bestattung planen: Sarg, Kiefer, weiß, 60 Zentimeter lang, 180 Euro, Totenhemd und Deckengarnitur, 37 Euro, Gebühren 200 Euro, Erledigungen wie Benachrichtigung von Krankenkassen und Standesamt sowie Urkunden, 140 Euro. 2000 Euro wird die Bestattung kosten. Wiegt ein totes Kind mehr als 500 Gramm, muss es bestattet werden. So steht es im Gesetz.

„Ich höre, fühle, sehe durch einen Filter. Und wenn ich meine Augen schließe, dann finde ich Trost in Deinem schönen Gesicht“, schreibt Tamara. Kann man jemals ankommen in diesem neuen Leben?

Man kann zumindest vieles verdrängen. Aber nicht die Frage nach der Schuld: War es das eine Glas Wein vor zwei Monaten, das dem Baby schadete? Die lange Autofahrt in den Urlaub? Der Stress im Büro? Tamara besucht ihre Frauenärztin. Es war doch immer alles gut, das Herz, die Ultraschall-Bilder. „Sie haben nichts falsch gemacht“, sagt die Ärztin. Auch die Ärztin macht sich Gedanken. Hat sie etwas übersehen?

Die Hebamme gibt Tamara und Steffen eine Liste mit Psychologen. Und sie sagt: Meldet Euch beim Verein für verwaiste Eltern. Aufstehen, telefonieren, anmelden, ordnen. All das kostet Kraft. Auch Nachrichten wie diese: Eltern, die ein Kind bei der Geburt verloren haben, bekommen kein Elterngeld. Nicht einmal für die ersten Monate.

Freunde und Arbeitskollegen schreiben Briefe, es sind Dutzende: „Euch zu raten, optimistisch nach vorne zu blicken, haben wir nicht gewagt, obwohl wir sicher sind, dass es die einzige Möglichkeit sein sollte, mit diesem großen Unglück umzugehen“, schreiben Katti und Wolfgang. Eine Freundin schickt Schokolade, eine andere eine Karte mit einer Lichterkette an einem Baum. Viele Freunde sind unsicher: Wie soll man reagieren? Was sagen? Tamara findet, dass manchmal auch ein einziges Wort ganz gut passt: Scheiße.

Es gibt die Fragen der ahnungslosen Nachbarn, die Schmerz aufwühlen: Was macht denn der Nachwuchs? Wozu darf man gratulieren? Tamara und Steffen legen sich eine Antwort für die Öffentlichkeit zurecht: „Stine ist bei der Geburt gestorben. Es ist hart, aber uns geht es gut.“ So in etwa. Eine Antwort kann auch eine Mauer sein. „Na ja, Sie sind ja noch jung, Sie können noch oft Mutter werden.“ Auch diese Sätze hört Tamara auf ihre Antwort.

Einen Tag vor Steffens Geburtstag Ende November 2010 fahren die beiden auf den Darß an die Ostsee. Urlaub im Hotel, all inclusive. Sie schauen Filme mit Peter Alexander, die Steffen so mag. Sie schläft viel, er geht mit dem Hund am Strand spazieren. Beide schreiben Trauerkarten an ihre Freunde. „Wir fühlen uns getragen durch Eure tröstenden Worte und Gedanken.“

Club der Schicksalsträgerinnen, so nennt Tamara die Rückbildungsgymnastik für verwaiste Mütter, die sie besucht. Sie tragen nicht ihr Baby, sondern das Schicksal vom Tod des Babys. Den Körper wieder in Form bringen zu wollen, ist ein guter Schritt nach vorne, sagt die Kursleiterin. Den Körper trimmen, Beckenbodentraining, Bauchmuskeln. Der Körper, der nicht funktioniert hat. „Wir sind die Mütter, die auf eine Art körperlich versagt haben“, schreibt Tamara. Sie, die immer alles perfekt machen wollte, fühlt sich gescheitert.

Tamara weint viel, trauert laut. Steffen macht vieles mit sich selbst aus

Auch darüber spricht sie mit Kathrin, der Hebamme, die jetzt einmal am Tag vorbeischaut. Tamara beginnt wieder mit der Arbeit in der Agentur. Der Schreibtisch ist auch eine rettende Insel. Stine ist seit drei Monaten tot.

Es gibt Übungen für den Körper. Für den Kopf besuchen Tamara und Steffen die Trauergruppe, jeden ersten und dritten Montag im Monat. „Ich bin Tamara und unsere Tochter heißt Stine. Sie ist kurz vor ihrer Geburt in der 41. Schwangerschaftswoche an einer sehr seltenen Nabelschnuransatzanomalie, einer insertio velamentosa, gestorben.“ So stellt sich Tamara vor. Am Anfang kommen immer neue Paare oder Mütter in die Gruppe. Sie wiederholen die Vorstellungsrunde. Irgendwann wird es fast komisch. Marianne* und Stefanie haben ihre Töchter auch im neunten Monat der Schwangerschaft verloren, Todesursache unbekannt. Franziska und Martina schon früher an einer Infektion und einem vorzeitigen Fruchtblasensprung. Tamara lernt Sarah kennen. Die Nabelschnur hatte sich viermal um den Hals ihrer Tochter gewickelt.

Damals, im Krankenhaus, fühlten sich Tamara und Steffen allein auf dieser Welt. Sie dachten, dass da draußen nur Glück im Kinderwagen über die Bürgersteige fährt. Nur sie dürfen nicht mitfahren. Jetzt aber hören sie die Geschichten der anderen. Das hilft. Aber es strengt auch an. Manchmal kommt Tamara vom Rückbildungskurs zurück und fällt in Steffens Arme, sie weint und flucht. Steffen kauft ein, kocht, setzt sich zu Tamara ans Bett, tröstet sie. An anderen Tagen ist es Steffen, der im Bett liegt und nicht mehr kann. Tamara trauert laut, erzählen enge Freunde heute. „Tamara hat in der Klinik hemmungslos geweint. Steffen war ganz still.“ Er trauert leise, sagen sie. Mache vieles mit sich selbst aus.

Ende Dezember bekommt Tamara eine Prämie von einer ihrer Autorinnen. Ein Buch hat sich binnen drei Monaten 90.000-Mal verkauft. Tamara beschließt, von dem Geld eine Ausbildung als psychologisch systemischer Coach zu machen. Das war immer schon ihr Plan, einer von vielen, aber einer, der immer blieb. Wenn, dann jetzt, sagt sie.

Montags in der Trauergruppe treffen Tamara und Steffen alleinerziehende Mütter. Sie erzählen von den Strapazen der Schwangerschaft, dem Tod, den Enttäuschungen. Und sie erzählen davon, dass die Beziehung diesen Druck irgendwann nicht mehr ausgehalten hat, zerbrochen ist.

Warum zerbricht die eine Liebe, warum hält die andere? Tamara und Steffen gehen zum Paartherapeuten. Eine Stunde in der Woche. Wieder reden. Wieder erzählen, diesmal viel mehr als nur über Stines Tod. Diesmal geht es vor allem um die beiden selbst, ihre Kindheit, ihr Leben. Reden. Aussprechen. Nur so, sagen sie sich, wächst Verständnis. „Nur so bauen wir keine Mauern um uns herum, wie sie die Mauern zu den ahnungslosen Nachbarn aufbauen.“ Tamara schreibt in ihr Buch: „Steffens Liebe ist der Fahrstuhl nach oben. Ins Licht.“

Und Tamara nimmt Tempo raus – aus ihrem Leben, der Arbeit, der Beziehung. Die Ehrgeizige muss lernen, Zeit zu verschwenden, auf dem Sofa, vor der Glotze, mit Steffen und seiner Tochter. Tamara und Sophie kommen sich immer näher. „Sie sagt jetzt Extramutter zu mir“, schreibt Tamara 2011. Stiefmutter findet Sophie nicht schön. Was sich Tamara auch wünscht, ist ein eigenes Kind, ein lebendes. „Ist das egoistisch?“ Hat sie genug getrauert? Ist ein neues Kind nur eine Ersatz-Stine?

Eine Freundin postet auf Facebook ein Bild. Sie, ihr Mann und die drei Kinder, eines von ihnen war gerade neu geboren. „Jetzt sind wir komplett“, schreibt sie unter das Foto. Komplett, sagt Tamara, das werden wir nie sein.

Wenn sie traurig ist, schreibt sie Briefe an Stine. Das Tagebuch ist auch Therapie. „In meinen Gedanken höre ich manchmal Deine Stimme. Du sagst: Mama, sei nicht traurig. Oder: Mir geht es gut, mach’ Dir keine Sorgen. Ich höre auch manchmal: Meine Geschwister können es gar nicht erwarten, zu euch zu kommen.“ Es wird Frühling im Jahr 2011, Tamara läuft im Park, geht zum Yoga, meditiert viel, arbeitet. In der Trauergruppe stellen die Eltern gerade alle Kinder vor, so als säße Stine neben Tamara in der Gruppe, so, als sei sie am Leben. „Wie soll ich Dich beschreiben?“, fragt sie Stine. „Meine Traurigkeit war nichts gegen Deine strahlende Schönheit, die Sanftheit des Todes, für den ich auf einmal Schönheit und Frieden empfand.“

Am 25. Juni 2011 heiraten Tamara und Steffen in einer Kirche bei Trittau, dort, wo Tamara aufgewachsen ist. Auf der Feier mit Freunden und Verwandten gibt es ein von Steffen erlegtes Wild, DJ Thomas spielt Michael Jackson und die Beatles. Sie tanzen bis morgens um sieben, sie lachen, sie trinken. Es fühlt sich gut an. Und Tamara weiß noch nicht, dass sie wieder schwanger ist.

30. Oktober 2011: „Herzlichen Glückwunsch, mein liebes Kind.“ Stine wäre jetzt ein Jahr alt. Tamara arbeitet seit zwei Wochen nicht mehr. „In mir trage ich Dein kleines Brüderchen, den kleinen Helden. Ich hoffe, Du passt gut auf ihn auf, auf der Wolke.“ Mit rasendem Puls fährt sie zur Vorsorgeuntersuchung, jedes Mal. Diesmal gibt es keine Besorgungsliste, keine Namensliste, kein Baby-Shoppen vor der Geburt.

Am 23. Februar 2012 wird Elias geboren. Er kommt per Kaiserschnitt auf die Welt. In der 20. Woche der Schwangerschaft hatte die Kinderärztin eine verengte Harnröhre bei Elias diagnostiziert. Der gestaute Urin zerstörte seine Niere. Nach der Geburt ist nicht klar, ob Elias überlebt.

Es ist Frühling 2013. Tamara fährt mit dem Auto raus nach Hartenholm bei Bad Segeberg. Stine hat im Ruheforst ihr Grab, Buchen und Eichen stehen hier, ein Sandweg führt entlang der Bäume. Nach gut 50 Metern geht Tamara vom Weg ab und stapft durchs Laub. An einem Baum ist ein grünes Namensschild angeschraubt. Stine Eva Gailberger. Jedes Jahr zu Weihnachten schneiden Tamara, Steffen und Sophie einen Zweig aus dem Weihnachtsbaum, sie fahren raus in den Ruheforst, legen den Zweig an Stines Grab und zünden eine Kerze an. Im Baum Zuhause klafft dann eine Lücke zwischen den Zweigen.

Mit Stine war es wie warten auf den Weihnachtsmann, sagt Tamara

Tamara war auch am 19. November 2010 hier, gemeinsam mit Steffen, Sophie, Verwandten und engen Freunden trugen sie Stine zu Grabe. Das Laub war braun, zwischen den Bäumen stand ein Tisch mit einer blauen Decke, darauf lag die Urne. Tamara hielt eine Rede, erzählte, wie sie drei Wochen zuvor noch zusammen mit Steffen auf einer Parkbank saß. „Warten auf den Weihnachtsmann“, so war das mit Stine. Sie erzählte, wie aus Neugier Orientierungslosigkeit wurde. Und wie sie sich in der Trauer fallenlassen konnten, in die Worte und Arme der Freunde. Dann sangen alle gemeinsam ein Lied, May the long time sun shine upon you, so fängt es an. Sie schütteten Erde auf Stines Urne.

Stine ist tot. Elias lebt. Im Herbst wird Steffen ihm seine Niere spenden. Auf dem Teppich im Wohnzimmer liegt eine Spielzeug-Lokomotive, Elias greift nach einer Holzgiraffe. Während Tamara von Stine erzählt, steht sie manchmal auf und holt aus der Küche eine Spritze mit Milch. Sie drückt die Nahrung durch einen Schlauch in seiner Nase in seinen Magen. Manchmal weint Elias, wenn Tamara die Sonde in seine Nase schiebt, manchmal kreischt er, wenn er müde ist. So wie alle Babys. Oft sieht Steffen im Supermarkt oder auf der Straße Eltern, die wütend auf ihr Kind werden, weil es quengelt. „Dabei“, sagt er, „gibt es nichts Schöneres, als die Stimme seines Kindes zu hören.“

*Namen der Trauergruppe geändert