Sozialarbeiterin Xiomara Tortoza hilft Frauen aus Südamerika, in Hamburg Fuß zu fassen. Das Credo der Venezolanerin: sich Gehör verschaffen!

Ein venezolanisches Sprichwort sagt: "Wer nicht weint, kommt auch nicht an die Brust." Man muss schon den Mund aufmachen, damit man gehört wird. Damit wäre das Tätigkeitsfeld von Xiomara Tortoza beinahe schon hinreichend beschrieben. Aber eben nur fast.

Die gebürtige Venezolanerin wurde vor 51 Jahren als achtes von 16 Kindern in einem "Barrio" im Westen der Hauptstadt Caracas geboren. Barrios, so nennt man die Armenviertel, die sich am Rande der großen Städte wie eben Caracas, Valencia oder Maracaibo gebildet haben. Mancherorts stehen schon einfache Häuser statt Wellblechhütten, und es gibt sogar eine Wasserversorgung. "Aber um solche Annehmlichkeiten zu bekommen, müssen sich die Einwohner erst einmal organisieren", sagt Xiomara Tortoza, "die Menschen müssen lernen, sich zu artikulieren. Und sie müssen wissen, dass sie neben all ihren Pflichten auch Rechte haben." Das gelte jedoch nicht nur für Südamerika, sondern auch für Deutschland und damit natürlich auch für Hamburg, wo inzwischen eine ziemlich große lateinamerikanische Migrantengruppe beheimatet sei - so zwischen 7000 und 8000 Menschen, schätzt Xiomara Tortoza, die hier, seitdem sie im Jahre 2002 nach Deutschland gekommen ist, als freiberufliche Sozialarbeiterin tätig ist.

In Venezuela war sie Leiterin eines Bildungszentrums, dort hat sie auch Anfang der 90er-Jahre ihren Mann Thomas kennengelernt, der Spanisch studierte, Übersetzer werden wollte und sich damals auf der Durchreise nach Brasilien befand. 1996 heirateten die beiden, ein Jahr darauf kam Sohn David zur Welt, sechs Jahre später beschlossen sie, nach Deutschland zu gehen - in seine Heimat, Hamburg, wo sie in Rahlstedt eine Wohnung bezogen.

Xiomara Tortoza gründete die Frauengruppe "Abriendo Espacios", was man mit "Horizonte öffnen" oder "Möglichkeiten schaffen" übersetzen kann, denn ihr war schnell klar geworden, dass die Bedingungen für eine Integration alles andere als perfekt waren. "Wenn man mit Menschen, die fremd sind, nicht arbeitet, führt das häufig zu Situationen, in denen man sie nicht akzeptiert. Deutschland besitzt eine strikte, kontrollierte Verwaltung. Alles muss sogleich funktionieren, auch die Migranten. Doch von unserem Standpunkt aus akzeptieren wir diese einseitigen Spielregeln nicht." Ihr gehe es darum, die Beziehungen zwischen Staat und Migranten zu stärken.

Auf den ersten Blick mag Xiomara Tortoza sanft und gütig wirken. So wie eine Mama, die sich ständig um ihre große Kinderschar sorgt. Sie lacht häufig, sie ist ja auch "voll integriert", kennt die Gebräuche und die Kultur ihrer neuen Heimat vielleicht sogar besser als manche Deutsche, doch je länger sie sich mit ihrer Arbeit auseinandersetzt und darüber redet, desto kämpferischer wird sie - eine Mutter Courage. Dann blitzt es in ihren Augen auf: "Migranten müssen unbedingt lernen, wie dieses Land und diese Gesellschaft funktionieren. Doch vorher müssen sie auch aus der Unsichtbarkeit heraustreten und ihre Passivität ablegen."

Sie bezeichnet sich selbst als Anhängerin des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire (+ 1997) und hat dessen Theorien auf der Universität in Caracas verinnerlicht: Freire hatte den Begriff von der "Kultur des Schweigens" geprägt, denn das vorwiegend katholische ländliche Proletariat und die Slumbewohner Lateinamerikas ergeben sich zumeist ihrem Schicksal - gemäß dem Grundsatz "es ist alles Gottes Wille". Freires Gegenkonzept fußt auf der bewussten Diskussion über die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur sowie Mensch und Tier, was Analphabeten zu der Erkenntnis bringen könnte, dass sie genauso Kultur schaffen wie gebildete Menschen, und dass Kultur etwas von Menschen Geschaffenes und somit auch veränderbar sei.

Natürlich ist auch Xiomara Tortoza klar, dass die meisten Menschen nicht aus ihrer Heimat emigrieren, weil sie eine Lustreise unternehmen wollen, sondern weil dahinter eine wirtschaftliche Notwendigkeit steckt. "Die meisten Migranten aus Lateinamerika sind Wirtschaftsflüchtlinge", gibt sie unumwunden zu, "und es sind leider sehr häufig auch nicht die technischen Fachkräfte, die Deutschland sucht. Aber auch diese Migranten können einen Beitrag für dieses Land leisten. Haben Sie eine Ahnung, wie viel Geld diese Menschen in den vergangenen Jahren nach Südamerika zu ihren Familien geschickt haben - Geld, das sie erarbeitet haben?" Die angestrebte Integration dürfe jedenfalls nicht entwertet werden: "Es bringt nichts zu sagen 'O Gott, diese armen Menschen, denen müssen wir helfen!' Nein, die Herausforderung liegt darin, zu verstehen und herauszufinden, wo die Stärken desjenigen liegen, der in dieses Land kommt."

Migranten sind unübersehbarer Teil unserer Gesellschaft. "Doch sie prägen nicht nur viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, wie Gastronomie, Handel, Kultur und Sport, sondern leisten mittlerweile auch erhebliche Beiträge zum Sozialsystem", sagt Xiomara Tortoza, aus deren ehrenamtlicher Tätigkeit mittlerweile ein Fulltimejob geworden ist. In der Interkulturellen Begegnungsstätte in der Rendsburger Straße wird die Sozialarbeiterin aber auch - "leider viel zu häufig!" - mit teils dramatischen Fällen konfrontiert; mit Frauen, die man mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt hat und die sich plötzlich in einem Bordell wiederfinden; mit Frauen, denen man den Pass abgenommen hat und sie nach Ablauf ihres Visums als unterbezahlte Haushaltshilfen, Putzfrauen oder Kindermädchen illegal beschäftigt; mit Frauen die von ihren (deutschen) Ehemännern wie Sklavinnen gehalten werden. "Da war zum Beispiel eine Spanierin mit nur rudimentären Deutschkenntnissen, bei der ein klar protokollierter Fall von häuslicher Gewalt vorlag. Sie wollte aber kein Almosen, sondern benötigte rasch eine sichere Bleibe. Aber die Behördenmitarbeiterin auf dem Wohnungsamt sagte: 'Du kommst aus Spanien? Du willst eine Wohnung? Aber von mir bekommst du keine, denn du kannst ja nicht mal richtig Deutsch!'"

In solchen drastischen Fällen schreitet Xiomara Tortoza dann sofort ein. Denn sie weiß auch, dass Frauen, die die deutsche Sprache nicht oder nur schlecht sprechen, besonders verletzlich sind. "Migrantinnen fehlt es häufig an Selbstwertgefühl", sagt sie, "aber das erste, was sie in solchen Extremsituationen lernen müssen ist, dass sie in diesem Land die Polizei rufen können - und dass sie Rechte haben."

Letztlich aber gehe es überhaupt nicht um das Verhältnis zwischen Migranten und Deutschen speziell, sondern um das Zusammenleben von Menschen. "Wir können nicht alle gleich gemacht werden", sagt Xiomara Tortoza, aber sie wünsche sich manchmal, dass die Deutschen mehr aus sich herauskämen. "Wäre es ein Wunschkonzert: Ich glaube, ich würde die Menschen aufrufen, das Eis zu brechen und sich angstfrei gegenüber zu treten."

Dann ruft schon wieder die Pflicht. Ihre Frauengruppe kommt gleich zusammen. Xiomara Tortoza trinkt ihre Rhabarbersaftschorle aus, verabschiedet sich von ihrem Mann und verlässt das Chavis Kulturcafé, einen ihrer Lieblingsplätze auf dem Kiez. Thomas Gohlke wird ein bisschen lesen, vielleicht noch kurz spazieren gehen, bevor sie dann gemeinsam nach Hause radeln - auf ihrem Tandem, das sie sich zum zehnten Hochzeitstag geschenkt haben.