Anfang der 70er-Jahre sollte ein Wolkenkratzer Westerland zum Weltbad machen. Matthias Iken erinnert an den Widerstand gegen das Projekt, der die Insel veränderte.

Westerland. Stellen Sie sich vor, Sie liegen im Strandkorb, das Meer rauscht, Ihre nackten Füße spielen im Sand, und dann drehen Sie sich um und sehen ein Betonmonstrum. Ein Wohnsilo, mit rund 100 Metern höher als das Hochhaus am Berliner Tor in Hamburg und doppelt so hoch wie die Bauten, die dort seit bald 50 Jahren die Insel verschandeln. Viel hätte nicht gefehlt, und diese Vision wäre vor 40 Jahren Wirklichkeit geworden. Doch Sylt hatte Glück - das Projekt "Atlantis" ist untergegangen.

Dabei passten die Pläne wunderbar in die Schlussphase des Wirtschaftswunders. In den Jahren zuvor war ein Betonklotz nach dem nächsten im Sylter Sand hochgezogen worden, Bettenburgen des Massentourismus rückten an die Stelle wilhelminischer Villen. "Ach Sylt, schön muss es hier einmal gewesen sein, auch im Sommer, bevor die Spekulation über die Kampener Heide und der Kapitalismus, Anschauungsunterricht erteilend, über das Land zwischen den Meeren triumphierten", seufzte Schriftsteller Walter Jens.

1969 waren die Atlantis-Planungen öffentlich geworden. Zunächst über 100 Meter hoch, mit 33 Etagen, Luxushotel und Tiefgarage sollte es in den Sylter Himmel wachsen. Die Firma Hausbau Bense, die zuvor das Kurzentrum Westerland nebenan hochgezogen hatte, wollte das "Appartementhaus der Zukunft" errichten, dort, wo heute die Sylter Welle steht. 100 Millionen Mark sollten investiert werden, 750 Appartements waren geplant, 3000 Ferienbetten und unglaubliche 1500 Parkplätze in einer Garage. Als Bonbon sollten 16 Millionen DM in das neue Kurmittelhaus fließen. Der Name, der die Hybris jener Tage atmet, wurde in einem Wettbewerb unter Kurgästen gefunden: Atlantis. Westerland verstand sich als Weltbad und wollte es bleiben. Bei einer Abstimmung in der Stadtvertretung im April 1971 über den Bebauungsplan votierten 14 zu 6 Parlamentarier für den leicht abgespeckten Wolkenkratzer mit 25 Geschossen.

Doch der Turmbau zu Westerland stieß in der Bevölkerung auf Zweifel. Wurden zuvor die Bauten als Investments in eine goldene Zukunft verstanden, mehrten sich nun kritische Stimmen. Auf der Insel, aber auch im In- und Ausland, wurde erbittert gestritten. Die Befürworter stützten sich auf Futurologen, die eine Verdopplung des Tourismus prophezeiten, die Gegner befürchteten den Kollaps der Insel. Die neu gegründete "Bürgerinitiative Sylt" stellte kritische Fragen: Wohin mit dem Müll und den Abwässern? Woher sollte das Trinkwasser kommen? Und wer will dann noch Urlaub auf Sylt machen?

Der Status als Heilbad geriet in Gefahr. "Das Mammutprojekt ist bereits überholt, obwohl es sich noch in Planung befindet." Die Warnungen drehten auf wie ein Novemberorkan, kritische Gutachten machten die Runde, die Medien stürzten sich auf das Thema. Der Streit nahm an Hitze zu. Strafanzeigen, Bestechungsvorwürfe und anonyme Drohungen machten die Runde. Unbekannte zerstachen Autoreifen, warfen Fensterscheiben ein. 18.373 Gegner unterschrieben gegen das hochfliegende Projekt.

Am 23. November 1971 zogen mehr als 1000 Demonstranten durch den Schneematsch von Westerland und protestierten gegen den Koloss, trugen das Heilbad in einem Sarg zu Grabe. Die "Sylter Rundschau" zitierte ein Flugblatt: "Inselfremde Finanzgruppen schaffen es mehr und mehr, den Syltern die Haupterwerbsquelle der Vermietung aus den Händen zu nehmen - sie bauen und bauen. Doch die Westerländer Bevölkerung schweigt nicht länger. Keine weiteren Appartement-Hochhäuser!" Der damalige Westerländer Bürgervorsteher Ernst-Wilhelm Stojan (SPD) erinnert sich: "Die große Mehrheit der Bevölkerung war gegen den Bau - nur in der Stadtvertretung war es umgekehrt." Stojan wurde zum erbitterten Gegner des Projekts. In der entscheidenden Abstimmung sagte er: "Ich werde meine Hand nicht heben, um den Sterbeprozess einer Stadt einzuleiten." Ohne Erfolg. Mit zwölf zu acht Stimmen winkte das Stadtparlament das Großprojekt nach einer neunstündigen Sitzung im November durch.

Doch die Gegner gaben nicht auf - sie schalteten die Landespolitik ein. "Ich hatte Kontakt zu Politikern in Kiel aufgenommen", erinnert sich Stojan. Seine SPD-Landtagsfraktion sprach sich im Dezember 1971 gegen dem Bau von Atlantis aus. Zweimal suchte er direkt das Gespräch mit Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (CDU) - für die Parteifreunde eine Ungeheuerlichkeit. Aber eine mit Erfolg. Am 18. April 1972 kippte das schleswig-holsteinische Innenministerium den Bebauungsplan.

"Unser Ablehnungsbescheid an die Stadt Westerland", so sagte Innenminister Rudolf Titzck, "gründet sich auf die Gefahren für den Umweltschutz, die mangelnde Verkehrserschließung und die drohende Überbelastung des Sylter Naturraums." Im September 1973 entzog das Innenministerium der Stadt Westerland sogar "die Befugnis zur Erteilung von Baugenehmigungen". Denn: "Schon seit einer Reihe von Jahren wird die Baugenehmigungspraxis der Stadt Westerland mit Befremden und großer Besorgnis betrachtet."

Die Sylter Politik verzieh ihrem Bürgervorsteher Stojan sein Engagement gegen Atlantis nicht - er wurde im Juli 1973 wegen angeblicher "Arbeitsüberlastung" abgewählt, mit den Stimmen der CDU und der SPD. Wegen der Entlassung Stojans forderte der Landesvorstand den SPD-Ortsverein Westerland auf, den gesamten Ortsvereinsvorstand abzuberufen. Stojan ficht das nicht mehr an: "Ich bin heute noch stolz darauf, dafür abgewählt worden zu sein." Gleichwohl sieht er die Entwicklung seiner Insel weiter mit Besorgnis. "Der Fremdenverkehr bekommt eine neue Struktur", sagt er. Immer weniger Sylter Familien könnten ihre Immobilien halten, etwa wenn Häuser vererbt werden. Insulaner würden aufs Festland gedrängt. Auch ohne Atlantis bleibt Sylt in Gefahr.