Für illegale Migranten sind Dr. Nina Schmedt und Dr. Teresa Steinmüller häufig die letzte Hoffnung. Alexander Schuller über zwei Medizinerinnen am Rande der Schattenwelt.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Nina Schmedt und Teresa Steinmüller bekamen den Faden von Brigitte Huber und geben ihn an Elisabeth Korgiel vom Verein Verwaiste Eltern und Geschwister weiter.

Vor der stählernen Praxistür in der ersten Etage des Ärztehauses Bernstorffstraße Ecke Stresemannstraße stehen ausschließlich Menschen, die es eigentlich gar nicht gibt. Jedenfalls nicht offiziell. Es sind Menschen, die um keinen Preis auffallen wollen, denn sie leben illegal in unserem Land. Sie haben weder eine Aufenthaltserlaubnis noch eine Arbeitsgenehmigung, aber sie schuften meist schwarz, auf Baustellen oder in Haushalten, verdienen fast immer weit unter Tarif, sind nicht versichert. Ohne Fahrkarten betreten sie keine U-Bahn, sie gehen nur bei Grün über die Straße, sie zahlen ausschließlich bar und das immer pünktlich. Sie tun einfach alles, um in Deutschland bleiben zu können. Weil ein Leben hier im Untergrund vermutlich immer noch menschenwürdiger ist, als das Leben in ihrer Heimat, aus der sie geflohen sind, häufig vor vielen Jahren schon. Aber auch Migranten erkranken, können einen Unfall erleiden, oder sich auf Nachwuchs freuen. Oder sie werden einfach älter. Manche leben schon 20 Jahre unsichtbar in unserer Gesellschaft.

Hinter der Praxistür dürften sie sich auf sicherem Terrain befinden, denn "Andocken" - die ärztliche und soziale Praxis für Menschen ohne Papiere - gibt keine personenbezogenen Daten weiter. Die Behandlung ist kostenlos und anonym. Doch das Misstrauen der Migrantinnen ohne Papiere ist groß: "Viele unserer Patienten kommen sehr spät - häufig zu spät", stellt Nina Schmedt auf der Günne sachlich fest. Die 35-jährige Fachärztin für Allgemeinmedizin bildet gemeinsam mit ihrer Kollegin, der 60-jährigen Gynäkologin Teresa Steinmüller, das ärztliche Versorgungsduo dieser Einrichtung des Diakonie-Hilfswerks Hamburg, das ausschließlich durch Eigenmittel und Spenden finanziert wird.

"Der Arztbesuch wird aus Sorge vor dem Entdecktwerden zumeist so lange vermieden, bis es nicht mehr geht. Und dann kann aus einer ursprünglich relativ harmlosen Erkrankung was Ernstes werden." Neben der ärztlichen Versorgung findet eine rechtliche Betreuung durch die Sozialberaterin Carolina Martinez statt.

Die frisch renovierte Praxis ist erst seit Mitte März geöffnet. Sie wird zu einem großen Teil über das Hamburger Spendenparlament finanziert. Man betritt sie über die Rezeption, welche gleichzeitig als Wartezimmer dient. Zehn Stühle stehen an der Wand aufgereiht, in einer Ecke liegt Kinderspielzeug auf dem blauen Linoleumboden. Zweimal pro Woche, dienstags und donnerstags, öffnet "Andocken" zur Sprechstunde, jeweils zwei Stunden lang, "aber meistens reicht die knapp bemessene Zeit nicht aus", sagt Teresa Steinmüller. "Bei der überwiegenden Anzahl unserer Klienten und Klientinnen handelt es sich um Erstkontakte", erklärt sie.

Ein ausführliches Aufnahmegespräch, welches die persönliche Vor- und Krankengeschichte beleuchtet, wird häufig durch teilweise rudimentäre Deutschkenntnisse erschwert und ist daher sehr zeitintensiv. "Unsere bisherigen Erfahrungen zeigen, dass viele unserer Patienten nur zögerlich und mitunter verunsichert die Praxis betreten", sagt Nina Schmedt. Neben der Sprechstunde gehört die Zusammenarbeit mit Fachärzten und Krankenhäusern zur Tätigkeit der Ärztinnen. Nur so kann eine adäquate medizinische Versorgung gewährleistet werden. Das betreffe vor allem die Kooperation mit Gynäkologen, berichtet Teresa Steinmüller, die sich daher nichts Dringlicheres wünscht, als ein Ultraschallgerät, um eine erweiterte gynäkologische Versorgung anbieten zu können. "Wir arbeiten bereits dran", sagt sie kämpferisch, "aber wir sind nun mal auf weitere Spenden angewiesen."

Welcher Facharzt wird sich bereit erklären, die nicht krankenversicherte Patientin X zum einfachen Kostensatz, das heißt dann zum Selbstkostenpreis, zu behandeln; welches Krankenhaus sieht sich gar in der Lage, Patient Y kostenlos aufzunehmen? In komplizierten Fällen, wenn eine kleine Operation und eine Geburt vonnöten sind, übernimmt "Andocken" einen Teil der Kosten für den Fall, dass weder das Sozialamt, noch die Hamburger "Clearingstelle" die Krankenhaus- und Arztrechnungen übernehmen.

Dieses System der Finanzierung ist nur schwer zu durchschauen, und überdies erscheint es beinahe rätselhaft, dass es einerseits Behörden gibt, die liebend gerne mit ein paar Tausend-Watt-Scheinwerfern die Schattenwelt der Illegalen ausleuchten würden; andere staatliche Stellen jedoch ganz offiziell und peinlich genau darauf achten, dass die hilfsbedürftigen Menschen ihren dringend notwendigen Arztbesuch nicht mit der Abschiebung in ihr Heimatland bezahlen müssen. Die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz hat der Diakonie die ärztliche Leistung von Teresa Steinmüller zur Verfügung gestellt; Nina Schmedt ist aktuell mit einer halben Stelle als Ärztin bei der Diakonie angestellt. Mit der anderen Hälfte ihrer Arbeitszeit ist sie als angestellte Ärztin in einer Hamburger Hausarztpraxis tätig.

Nina Schmedt zuckt die Schultern. "Wenn ich zum Beispiel in einer Praxis anrufe, um für einen unserer Patienten einen Termin zu unseren speziellen Konditionen zu vereinbaren, sagen die Arzthelferinnen zumeist sinngemäß 'Da muss ich erst mal den Doktor fragen!'" Dessen positive Entscheidung könne sie danach inzwischen schon an der Wortwahl und dem freudigen Tonfall der Arzthelferin erkennen. "Tja", meint die junge Frau, "hinter jedem Arzt steckt eben auch ein Mensch."

Die gebürtige Westfälin aus Lengerich fühlt sich jetzt, nachdem sie sowohl in Deutschland als auch im Ausland Berufserfahrung sammeln konnte, im Arztjob angekommen. Die Gynäkologin Teresa Steinmüller dagegen wollte immer nur eins werden: Ärztin. Sie ist eine elegante Frau mit einem ziemlich bewegten Leben. Geboren in Wien, wanderten ihre Eltern 1954 nach Brasilien aus, wo sie später Medizin studierte und sich auf Gynäkologie spezialisierte. Vor 26 Jahren ist sie wegen einer medizinischen Fortbildung nach Deutschland gekommen, zunächst nach Kiel. Drei Monate wollte sie damals bleiben, doch daraus wurde inzwischen mehr als ein Vierteljahrhundert. "Ich wollte immer mit Leben arbeiten, mit Hoffnung und Perspektive", sagt sie mit unüberhörbarem portugiesischen Akzent und nestelt dabei an ihrer dezenten Halskette. Nina Schmedt dagegen hat ein fröhliches buntes Amulett um den Hals, das ein bisschen an Indianerschmuck erinnert. Sie trägt rote Turnschuhe und ein leuchtend blaues Shirt, während ihre Kollegin elegante Schuhe und eine pinkfarbene Bluse bevorzugt. "Es ist immer eine Freude, wenn uns die Frauen nachher dann stolz ihre Kinder zeigen - einfach ein gutes Gefühl." Sie selbst hatte dieses Gefühl achtmal, und weiß daher genau, wovon sie spricht. Doch leider musste auch Teresa Steinmüller erfahren was es heißt, ein Kind zu verlieren. Wer ein Leben mit solch unterschiedlichen Facetten überstehen muss, entwickelt vermutlich automatisch so etwas wie Empathie. "Ich glaube, dass ich einfach dieses Verständnis für die Menschen mitbringe", beschreibt sie sich selbst. "Mich haben schon immer die Geschichten hinter den Fassaden der Menschen interessiert. Und ich weiß doch ganz genau, dass unsere Patientinnen nicht bloß mit organischen Beschwerden zu uns kommen." Man könne nie genug dazulernen, meint sie. Deshalb bilde sie sich auch ständig fort; zurzeit mache sie nebenbei eine dreijährige, fachgebundene Ausbildung als Psychotherapeutin.

So unterschiedlich die beiden Ärztinnen vom Typ her sind, so gut scheinen sie sich auch zu ergänzen. "Ich würde nie in einer Praxis arbeiten, in der es nicht auch zwischenmenschlich funktioniert. Das Team muss einfach stimmen", sagt Nina Schmedt. Die menschliche Komponente stehe eigentlich über allem. "Aber ich glaube, wir haben uns in den paar Wochen, in denen wir jetzt schon zusammenarbeiten, ganz gut zusammengerauft." Teresa Steinmüller nickt zustimmend. Dabei half ihnen wahrscheinlich auch das Credo, das die beiden Frauen überzeugend vertreten: "Jeder Mensch in einem so reichen Land wie Deutschland sollte unter menschenwürdigen Bedingungen leben können", glaubt die junge Ärztin, auch wenn dieser Wunsch vermutlich utopisch klinge.

Für die Zukunft sehen beide massive Probleme auf die Gesellschaft zukommen - und natürlich auch auf die Migranten: "Je älter sie werden, desto schwächer werden ihre Wurzeln in die Heimat und umso größer werden für gewöhnlich auch die gesundheitlichen Probleme", sagt Teresa Steinmüller. Eine - wenn wohl auch schwer zu realisierende - Lösung des Problems, könne doch sein, diesen Menschen genau dort eine berufliche Perspektive zu bieten, wo es in Deutschland an Personal fehlt: in der Pflege und Kinderbetreuung. Letztlich müssten die Menschen raus aus der Illegalität und rein in unsere Gesellschaft!

Zwischen 7000 und 20.000 Illegale leben nach einer Schätzung der Diakonie allein in Hamburg. Und wenn sich "Andocken" herumspricht, wenn den Betroffenen klar wird, dass sie Hilfe erwartet und sie nicht in Gefahr sind, hier festgenommen zu werden, könnte der Patientenstrom größer werden, die Arbeit mehr. Wie bewerten die beiden Ärztinnen ihre Aufgabe?

Die Antwort dauert nicht einen Moment zu lange. "Geld ist nicht alles", sagen sie. Es fällt nicht schwer, das zu glauben.