Vor 80 Jahren übernahmen die Nazis die Macht im Reich, kurz darauf auch in der Hansestadt. Matthias Schmoock schildert die Mischung aus Teilnahmslosigkeit, Widerstand und Begeisterung, mit der man ihnen hier begegnete

Der 30. Januar 1933 ist ein regnerischer Montag. Die Grippe hat in diesem Monat schon 61 Menschenleben gefordert. Bei Karstadt laufen die "Weißen Wochen", eine Art Schlussverkauf, und im Varieté Flora kann man das boxende Känguru Austin bestaunen. An diesem Tag melden die Zeitungen, was sich soeben in Berlin ereignet hat: Reichspräsident Paul von Hindenburg hat den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernannt - die viel zitierte Machtübernahme (bzw. -übergabe) hat sich vollzogen. "Kabinett Hitler im Anmarsch", jubelt die NS-Zeitung "Hamburger Tageblatt", das SPD-Blatt "Hamburger Echo" warnt: "Alarm gegen Staatsstreich".

Viele Hamburger sehen den Machtwechsel in Berlin mit einer Mischung aus Teilnahmslosigkeit und offener Begeisterung. Sie sind von den Straßenkämpfen und den immer neuen wirtschaftspolitischen Hiobsbotschaften zermürbt. Hamburg ist als Handelsmetropole schwer von der Weltwirtschaftskrise getroffen. Massenarbeitslosigkeit, Hunger, Verelendung bestimmen den Alltag. Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung ist von staatlicher Hilfe abhängig, täglich werden es mehr. Sparguthaben und Renten schrumpfen, die Beschäftigung ist auf durchschnittlich nur noch 60 Prozent zurückgegangen. Im Baugewerbe liegt sie bei 23 Prozent, beim Schiffbau, einst Hamburgs Markenzeichen, bei 40 Prozent. Das Land Hamburg steht faktisch vor der Pleite, die Reedereien können nur noch dank eines millionenschweren Staatskredits weitermachen. Ende 1930 waren 100.000 Menschen in der Stadt arbeitslos (doppelt so viele wie 1928), im Frühjahr 1933 sind es 170.000.

Das Wahlergebnis vom April 1932 zeigt die zunehmende Radikalisierung in der Stadt: Die NSDAP erzielte 31,2 Prozent der Stimmen und ist nun erstmals stärkste Fraktion in der Bürgerschaft. 30,2 Prozent haben SPD gewählt, auf immerhin 16 Prozent bringt es die KPD.

Die sozialliberale Regierung um den schwer kranken Bürgermeister Carl Petersen (er stirbt noch im selben Jahr) ist in die Enge getrieben. Sie hat ihre Mehrheit verloren und kann nur noch geschäftsführend im Amt bleiben. Seit der Absetzung der Regierung Braun in Preußen im Sommer 1932 stehen die Nazis auch in Altona in den Startlöchern.

Die Hamburger Koalitionäre aus SPD und bürgerlicher Mitte stehen - anders als die radikalen Agitatoren von rechts und links - zur Weimarer Verfassung, aber ein Patentrezept zur Behebung von Not und Elend können sie nicht bieten. Um den Druck aus Richtung Berlin nicht noch weiter zu erhöhen, agiert der Senat äußerst vorsichtig. Die SPD fordert ihre Anhänger zu Disziplin, Geschlossenheit und Einigkeit auf - Agitation sieht anders aus. Trotzdem sendet die Hamburger NSDAP eine falsche Alarmmeldung nach der anderen nach Berlin. Der Tenor ist immer gleich: Die Landesregierung sei kommunistisch unterwandert, eine Intervention dringend nötig.

Hitler scheint vielen Hamburgern plötzlich wählbar - Arbeitern und Bürgerlichen gleichermaßen. Denn der spätere Diktator hat sich bei seinen zahlreichen Wahlkampfauftritten in der Hansestadt auch als Versöhner zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum präsentiert. Im einfachen Anzug - die martialische Parteiuniform wird er in der Öffentlichkeit erst später dauerhaft tragen - versprach er, auf den Straßen für Ruhe und Ordnung zu sorgen und das "Parteiengezänk" zu beenden. Das Märchen vom "Führer", der mit den Gewaltexzessen einiger untergeordneter Mitstreiter auch nicht immer einverstanden sei, wird schon damals von vielen geglaubt, die Hamburger lassen sich einlullen. "Hitler ist Reichskanzler! (...) Es ist so unausdenkbar schön" schreibt die mit einem Juden verheiratete Hamburgerin Luise Solmitz am 30. Januar 1933 in ihr Tagebuch, und Altbürgermeister Carl August Schröder ist sicher, dass die "zarte nationale Bewegung" allmählich "in ein ruhigeres Bette einmünden wird". Zwei Fehleinschätzungen von unzähligen.

Die Regierung Petersen wird sich noch knapp fünf Wochen halten. Kurz nach den Bürgerschaftswahlen vom 5. März 1933 weht das Hakenkreuz am Rathaus. Noch im selben Jahr lassen die neuen Machthaber jüdische Geschäfte boykottieren und erste Konzentrationslager einrichten. Nicht nur für Luise Solmitz und ihren Mann wird es ein böses Erwachen geben. Die "Gleichschaltung" erfasst Länder, Gemeinden, den Beamtenapparat, Verbände und Organisationen. Die NSDAP wird zur einzigen legalen politischen Partei bestimmt, die anderen werden verboten oder zur Selbstauflösung gezwungen. Der Weg in den Untergang ist vorgezeichnet - und Hamburg wird ihn mitgehen.