Vor 40 Jahren wütete “Quimburga“ über Norddeutschland. Matthias Iken erinnert an einen Orkan, auf den niemand vorbereitet war.

Es sollte ein letzter großer Wahlkampfauftritt in Hamburg werden - Außenminister Walter Scheel hatte sein Kommen für den Montag angekündigt. Am darauffolgenden Sonntag, dem 19. November 1972, sollten die Bundesbürger entscheiden, ob es mit der ersten sozialliberalen Koalition und der neuen Ostpolitik weitergehen, ob Willy Brandt Kanzler bleiben oder Rainer Barzel es werden sollte. FDP-Chef Scheel wollte am Mönckebergbrunnen um die Stimmen der Unentschlossenen werben - doch "Quimburga" kam dazwischen. Ein Orkan, der das Barometer auf St. Pauli auf das Jahrhunderttief von 955 Millibar drückte, riss Dachziegel los und gefährdete die Veranstaltung. Passend zum scheelschen Wahlspruch "Lasst Vernunft walten" wurde der Auftritt nach zehn Minuten abgeblasen.

Das Hamburger Abendblatt berichtete: "Über den Rathausmarkt hasten die Menschen, suchen Schutz in Haustüren und U-Bahn-Eingängen. Ein älteres Ehepaar hat fast das Rathausportal erreicht, da wird es von einem über den Platz wirbelnden Wahlplakat zu Boden gerissen." 75 Menschen kommen mit Verletzungen ins Krankenhaus.

Dabei hat das Orkantief Hamburg nur gestreift. Wesentlich stärkere Zerstörungen richtet "Quimburga" in Niedersachsen an. Die Verheerungen in dem Flächenland sind so stark, dass der Sturm als "Niedersachsenorkan" in die Geschichte eingeht. Allein hier und in Bremen kommen 21 Menschen ums Leben, europaweit sind 73 Tote zu beklagen. Die Windgeschwindigkeiten erreichen Rekorde: An einem Messgerät in Celle bleibt die Nadel mehrere Sekunden lang am Anschlag bei 167 Kilometern pro Stunde stehen. Böen erreichen über der Norddeutschen Tiefebene Geschwindigkeiten von 120 bis 155 km/h; auf dem Brocken wird eine Spitzenböe von 245 km/h gemessen. "Das war einer der stärksten Stürme des Jahrhunderts", sagt Frank Böttcher vom Institut für Wetter- und Klimakommunikation. Und er traf den Norden relativ unvorbereitet. "Es gab noch keine Computermodelle, man konnte das Wetter nur für wenige Tage vorhersagen. Der Atlantik, wo ,Quimburga' entstand, war der blinde Fleck der Meteorologie."

Noch am Tag zuvor war nur von einem gewöhnlichen Herbststurm die Rede, erst um 7.10 Uhr am 13. November gibt das Wetteramt Bremen eine Unwetterwarnung heraus. 100 Minuten später warnt der Rundfunk mit Programmunterbrechungen, in den Landgemeinden heulen die Sirenen. Da tobt "Quimburga" bereits über Norddeutschland. "Seit Menschengedenken das vernichtendste Unwetter" titelt die "Wildeshauser Zeitung". In Bremen erschlagen herabfallende Betonteile vor dem Bahnhof zwei Frauen. In Oldenburg stürzt der Turm von St. Peter ein. In Idafehn setzt "Quimburga" die Flügel einer Windmühle so schnell in Gang, dass sie Feuer fängt. "Das Problem bei solchen Stürmen sind die extremen Böen", sagt Böttcher. "90 Prozent der Schäden entstehen durch drei Prozent der Spitzengeschwindigkeiten."

Allerorten deckt "Quimburga" Dächer ab, bringt Schornsteine zum Einsturz und drückt Fensterscheiben ein. Umgestürzte Bäume machen Straßen unpassierbar, die Bundeswehr rückt mit Bergepanzern an. Weil Leitungen zerstört sind, fällt in vielen Regionen der Strom aus, mitunter tagelang.

Am verheerendsten aber wütet "Quimburga" in den Wäldern des Nordens. "Zur Unkenntlichkeit verstümmelter Wald" heißt es in der "Wildeshauser Zeitung" - mancherorts bleibt nur jeder zehnte oder gar jeder 20. Baum stehen. Im Landkreis Oldenburg werden zwei Drittel der Bäume beschädigt oder umgeworfen; in den Bereichen von Lüneburg und Stade liegt der Anteil bei rund der Hälfte. Vier Stunden genügen, um die Aufbauarbeit eines Jahrhunderts zu vernichten. "Viele hatten Tränen in den Augen", erinnert sich Rainer Städing vom Forstamt Ahlhorn. Auf einer Fläche von über 100 000 Hektar wurden etwa 50 Millionen Bäume umgeworfen. Der berühmte Umweltjournalist Horst Stern berichtet damals: "Der Superorkan warf der niedersächsischen Forstwirtschaft 18 Millionen Kubikmeter Holz vor die Füße. In drei Stunden die Ernte von fünf Jahren, von zehn Jahren sogar dort, wo die Kiefer überwog."

Für die Forstwirte begannen nach "Quimburga" harte Jahre. Gleich drei Aufgaben standen an: Möglichst schnell mussten sie die Flächen räumen, das Holz vermarkten und die Wiederaufforstung vorantreiben. Österreicher kamen mit mobilen Sägewerken zu Hilfe, die Skandinavier mit ihrer industriellen Forstwirtschaft. Die Wiederaufforstung dauerte bis zum Ende des Jahrzehnts. "Ohne ,Quimburga' sähen die Wälder im Norden heute anders aus", sagt Städing. Denn die schnell wachsenden Monokulturen aus Kiefer und Fichte wurden ein Raub des Orkans, die alten Laubwälder hielten ihm stand, weil sie, der Blätter beraubt, weniger Angriffsfläche boten und stabiler verwurzelt sind. "Es reifte die Erkenntnis, dass einseitige Baumauswahl solche Katastrophen begünstigt", sagt Städing. Fortan wurden Mischwälder bevorzugt, Kiefer und Fichte gehörten zu den Verlierern, Eiche, Buche und Douglasien zu den Gewinnern des Waldumbaus.