Einige ausleitende Verfahren genießen inzwischen den schulmedizinischen Segen

Andreas Michaelsen, Internist und Professor für Naturheilkunde an der Berliner Charité, über die Wirksamkeit von ausleitenden Verfahren.

Hamburger Abendblatt:

Wie beurteilen Sie als Schulmediziner Blutegeltherapie, Schröpfen und Aderlass?

Andreas Michaelsen:

Bei unseren Überprüfungen konnten wir diesen Verfahren, die aus der Medizingeschichte heraus keinen guten Ruf haben, beeindruckende Erfolge attestieren. Wir konnten nachweisen, dass Schröpfen bei Nackenschmerzen und Karpaltunnelsyndrom hilft, ein Aderlass Blutdruck und Blutzuckerspiegel senkt und Blutegel bei Arthrose und Sehnenscheidenentzündungen wie dem Tennisellenbogen eingesetzt werden können.

Können Sie uns ein Beispiel für einen solchen Erfolg nennen?

Michaelsen:

Wir haben eine Studie zur Knie-Arthrose gemacht. Bei 80 Prozent der Patienten wurde durch das einmalige Ansetzen von jeweils vier Blutegeln eine Schmerzlinderung um 70 Prozent erreicht. Unseres Wissens ist keine andere Therapie so wirksam. Weitere Ergebnisse habe ich mit meinem Kollegen Manfred Roth in dem Buch "Blutegeltherapie" (Haug-Verlag) beschrieben.

Werden ausleitende Verfahren in der Schulmedizin angewendet?

Michaelsen:

Unsere wissenschaftlichen Studien finden dort durchaus Beachtung. Kaum einer lästert mehr, zu den Fortbildungen kommen deutlich mehr Schulmediziner als noch vor ein paar Jahren. Orthopäden greifen bei der Behandlung von Arthrose mittlerweile zunehmend auf Blutegel zurück. Allerdings kann man damit nicht viel Geld verdienen.

Wie sieht es mit Schröpfen und Co. in anderen Teilen der Welt aus?

Michaelsen:

Uns liegen Studien zum Schröpfen aus verschiedenen Ländern vor, darunter auch aus Indien und dem Iran. Die ausleitenden Verfahren gehören zu einer traditionellen globalen Medizin, auf die sich derzeit viele rückbesinnen. So verleiht die Weltgesundheitsorganisation mittlerweile das Siegel "Zentrum für traditionelle Medizin" - auch an die Charité.

Gibt es ausleitende Verfahren, denen Sie skeptisch gegenüberstehen?

Michaelsen:

Ja. Bei der Baunscheidttherapie etwa wird die Haut mit Nadelstichen verletzt und anschließend mit hautreizendem Öl eingerieben. Damit will man bewusst Entzündungen hervorrufen, die in den Reflexzonen einen Gegenreiz erzeugen sollen. Die Grundidee ist sicher nicht falsch, aber das Verfahren ist nicht zeitgemäß - zumal es sehr schmerzhaft sein kann und oft Narben hinterlässt. Als überflüssig empfinde ich auch das Rödern, bei dem die Mandeln abgesaugt werden, und das sogenannte Purgieren, das Durchfall oder Erbrechen auslöst. Dann gibt es noch die Colon-Hydro-Therapie, bei der mithilfe einer Maschine der Darm gespült wird. Auch wenn manche Therapeuten das anders sehen mögen, zählt dies für mich nicht zu den Naturheilverfahren. Abgesehen davon wird diese Methode von manchen Menschen schon fast zwanghaft angewendet.

Wie erkennt man seriöse Heilpraktiker und Ärzte für Naturheilverfahren? Kann man sich auf die Suchmaschinen Verbände im Internet verlassen?

Michaelsen:

Leider gibt es in der Naturheilkunde weder eine Kontrollinstanz noch Qualitätszertifizierungen. Daher sollte der Patient gerade bei der ersten Begegnung mit dem Therapeuten durchaus kritisch sein. Wenn ihm sofortige Heilung garantiert wird, ist schon einmal Vorsicht angebracht: Auch mit ausleitenden Verfahren kann man keine Wunder vollbringen. Skepsis ist ebenfalls geboten, wenn der Heilpraktiker gleich mit einer hochpreisigen Therapie anfangen möchte. Am besten ist es, wenn man jemanden durch persönliche Empfehlung findet.