Finkenwerder. Tausende Pendler sorgen werktags für eine angespannte Verkehrslage auf der Elbinsel. Warum nutzen so wenige die Ortsumgehung?

  • Anwohner im Stadtteil Finkenwerder sind genervt von den vielen Airbus-Pendlern, die anstatt über die Umgehungsstrecke durch den Ortskern fahren.
  • Die Strecke durch den Ort ist nur halb so lang wie der Weg über die Ortsumgehung.
  • Wenn sich die Autos im Ortskern stauen, weichen viele Pendler über Wohnstraßen aus, die auch an einer Grundschule entlangführen. Hier ist die Verkehrssituation besonders heikel.

An manchen Tagen muss man in Finkenwerder Geduld haben. Wenn man zum Beispiel als Fußgänger oder Radfahrer die Hauptstraße überqueren möchte – und bei Airbus gerade Schichtwechsel ist. Kilometerlang zieht sich dann die Blechlawine durch die Hauptader der kleinen Elbinsel. Auto an Auto auf einer schmalen Straße, auf der nur in wenigen Abschnitten Tempo 30 gilt.

Die meisten von ihnen sind Pendler von Airbus, die direkt durch den Ortskern fahren, obwohl seit Dezember 2012 extra eine Umgehungsstraße für sie gebaut wurde. Sie sollte für eine Verkehrsberuhigung im Ort sorgen und die Durchgangsverkehre um den Kern von Finkenwerder führen.

Airbus-Pendler sorgen für Dauerstau auf Finkenwerder – trotz Ortsumgehung

Derzeit befindet sich der Flugzeugbauer mit seinem Werk in Finkenwerder im Personalaufbau. Rund 16.000 Mitarbeiter werden es voraussichtlich Ende des Jahres sein. Die Zahl der Airbus-Pendler wird also steigen. Viele Menschen auf der kleinen Elbinsel fragen sich deshalb: Tut Airbus genug, um seine Mitarbeiter dazu zu bewegen, den Dorfkern zu umfahren?

„Airbus-Beschäftigte werden regelmäßig darauf hingewiesen, die Umgehungsstraße zu nutzen“, heißt es auf Abendblatt-Nachfrage von einem Sprecher des Unternehmens. „Weiterhin ist dies auch für Lieferanten festgeschrieben. Selbstverständlich nehmen wir auch die aktuelle Situation wieder zum Anlass, insbesondere unsere neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf hinzuweisen.“

Sarah Wulff und René Mosler wohnen mit ihren Kindern am Finkenwerder Landscheideweg. Ihre Söhne Paul (9) und Willi (7) müssen einen Umweg zur Schule fahren, weil der direkte Weg zu gefährlich wäre.
Sarah Wulff und René Mosler wohnen mit ihren Kindern am Finkenwerder Landscheideweg. Ihre Söhne Paul (9) und Willi (7) müssen einen Umweg zur Schule fahren, weil der direkte Weg zu gefährlich wäre. © Lenthe-Medien | Lenthe-Medien

Das Unternehmen freue sich über die positive Resonanz der Belegschaft auf ihr HVV-Klimaticket-Angebot – über 9000 Abonnenten habe man bereits gewinnen können, 5000 mehr als zuvor im Profiticket. „Leider sind wir momentan aber auch von den bekannten Schwierigkeiten beim Fährbetrieb betroffen“, sagt Airbus-Sprecher Daniel Werdung. „Aber wir arbeiten weiterhin mit der Stadt, dem HVV und dem KVG daran, die ÖPNV-Anbindungen zum Standort auszubauen.“

Dauerstau auf Finkenwerder: Kinder müssen Umwege zur Schule fahren, um sicher anzukommen

Die Verkehrssituation in Finkenwerder ist zum Dauerthema geworden. Ende 2021 – mit dem Bau des neuen Dienstleistungszentrums von Airbus – hatte die Wirtschaftsbehörde auf Druck von Anwohnern und Lokalpolitikern ein Mobilitätskonzept in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Tempo 30 durchgängig in Finkenwerder sei der einzig wirksame Weg zur nachhaltigen Verkehrsreduzierung.

„Jeden Tag müssen mein Bruder und ich einen Umweg von 500 Metern zur Schule fahren, damit wir den Autos sicher ausweichen“, erklärt der neunjährige Paul seinen Schulweg. Er und sein Bruder Willi wohnen am Finkenwerder Landscheideweg. „Es gibt keinen Radweg und nur auf einer Seite einen Fußweg“, ergänzt Sarah Wulff, Mutter von vier Kindern.

Verkehr Hamburg: Immer wieder kommt es zu brenzligen Situationen

Immer wieder kommt es zu brenzligen Situationen mit rasenden Autofahrern, die versuchen, über die angrenzenden Wohngebiete dem Stau auf der Hauptstraße zwischen Aue-Hauptdeich und Neßdeich zu entkommen. „Ich bringe meinen Sohn jeden Tag zur Kita, dabei muss ich einige Engstellen passieren, doch die Autos nehmen keine Rücksicht und ziehen einfach auf meine Spur, wo ich mit dem Lastenrad oder dem Kinderanhänger dann ausweichen muss“, erklärt René Mosler den alltäglichen Irrsinn auf den Straßen des ehemaligen Fischerdorfes.

Ein typischer Fuß- und Radweg am Neßdeich. Die Wege sind zugewachsen und teilweise nur 50 Zentimeter breit.
Ein typischer Fuß- und Radweg am Neßdeich. Die Wege sind zugewachsen und teilweise nur 50 Zentimeter breit. © Lenthe-Medien | Lenthe-Medien

Durchgängig Tempo 30 ist auch in der Nebenstraße bisher nicht durchgängig angeordnet und dort, wo es gilt, wird der Fuß nicht vom Gas genommen. „Ich bin schon mehrfach auf dem Weg zur Schule von Autofahrern abgedrängt worden“, sagt Paul und seine Mutter ergänzt: „Auf einen Unfall kommen viele Beinaheunfälle, die nicht erfasst werden.“ Der Weg zur Grundschule Westerschule bleibe so selbst innerhalb der Wohnviertel stets ein Risiko.

„Muss immer erst etwas passieren, bevor gehandelt wird?“

Doch nicht nur in den Wohnstraßen von Finkenwerder haben Fußgänger und Radfahrer Angst im Straßenraum. Viele Berufspendler und Zulieferer der Rüschhalbinsel nutzen die sogenannte Hauptstraße durch den Ortskern von Finkenwerder als Rennstrecke, wenn sie denn frei ist. Die Strecke ist nur halb so lang wie der Weg über die Ortsumgehung, und die Fahrzeit ist nach Messungen einiger Anwohner in etwa gleich.

Auf der Strecke bleiben Fußgänger und Radfahrer, die auf zugewucherten Radwegen ständig auf die Straße ausweichen müssen, genau wie die vielen Gruppen, die in dieser Jahreszeit Radtouren ins Alte Land unternehmen. Wer zum Schichtwechsel von Airbus als Fußgänger die Straßenseite wechseln möchte, muss oft minutenlang am Gehwegrand warten.

Achtjähriger Junge wurde von einem Auto erfasst

Wie gefährlich die unübersichtliche Verkehrssituation ist, zeigte sich erst am Montag vor einer Woche, als ein achtjähriger Junge von einem Auto erfasst wurde, als er hinter dem Bus die Straßenseite wechseln wollte. „So etwas macht mich ärgerlich“, sagt René Mosler. „Die Autofahrer lernen in der Fahrschule, langsam an einem haltenden Bus vorbeizufahren, doch niemand hält sich dran“, so der engagierte Vater.

Elternrat Erik Gawron (l.) und Marcel Simon-Gadhof fordern Tempo 30 in Finkenwerder. Dafür engagieren sie sich seit drei Jahren.
Elternrat Erik Gawron (l.) und Marcel Simon-Gadhof fordern Tempo 30 in Finkenwerder. Dafür engagieren sie sich seit drei Jahren. © Lenthe-Medien | Lenthe-Medien

„Muss immer erst etwas passieren, bevor gehandelt wird?“, fragen sich Erik Gawron und Marcel Simon-Gadhof, die sich seit drei Jahren für ein durchgängiges Tempo-30-Limit in Finkenwerder einsetzen. „Die Hauptstraße ist in einem desolaten Zustand, und die Geh- und Radwege sind teilweise nicht mehr passierbar“, kritisieren die beiden.

„Radfahrer sollten die Straße nutzen, doch das ist mega gefährlich!“

„Vor einigen Jahren wurde die Ortsdurchfahrt umgewidmet und aus dem Hauptstraßen-Register gestrichen, seither gilt sie als Bezirksstraße mit überörtlicher Bedeutung“, so Gawron, der sich als Elternrat der Westerschule ebenfalls um die Schulwegsicherheit sorgt. Passiert sei daher nicht viel, lediglich die Benutzungspflicht der Radwege wurde abgeschafft und die blauen Radwegschilder demontiert, ergänzt Marcel Simon-Gadhof. „Wir sollten doch die Straße nutzen, wird den Radfahrern immer wieder gesagt. Aber das ist mega gefährlich“, führt er aus.

Die Autos würden an den Fahrrädern vorbeirasen, den vorgeschriebenen Abstand nicht einhalten, „und die Busse halten mitten auf der Straße“, so Simon-Gadhof. Er hofft, dass man in der unteren Verkehrsbehörde endlich mal genauer hinschaut. Diese würde immer wieder mit Blick auf die Gesetzeslage eine Zustimmung für Tempo 30 verweigern. Aber sie unternehme auch nichts, um die baulichen Voraussetzungen auf den Geh- und Radwegen, die ja immer noch da seien, zu verbessern.

Bei der Recherche verliert auch der Abendblatt-Reporter schnell die Übersicht

„Auch Kinder auf dem Schulweg müssen, um gefährlichen Begegnungen etwa mit Fußgängern auszuweichen, auf der vielbefahrenen Ortsdurchfahrt auf die Fahrbahn wechseln.“ Dies sei verantwortungslos und aus Gründen der Unfallvermeidung kaum nachzuvollziehen. „Das aktuelle Stückwerk aus fünf unterschiedlichen Tempo-30-Anordnungen ist wenig hilfreich“, so die Verkehrsprofis.

David Dworzynski und Carina Oestreich (beide SPD) planen einen Verkehrsversuch für Tempo 30 in Finkenwerder. „Wir tun, was wir können“, so die beiden Lokalpolitiker.
David Dworzynski und Carina Oestreich (beide SPD) planen einen Verkehrsversuch für Tempo 30 in Finkenwerder. „Wir tun, was wir können“, so die beiden Lokalpolitiker. © Lenthe-Medien | Lenthe-Medien

In der Tat: Bei der Recherche zu diesem Artikel verliert auch der Abendblatt-Reporter schnell die Übersicht. Für Busse und Lastwagen gilt generell Tempo 30, vor Kindergärten und Schulen gilt Tempo 30 zu unterschiedlichen Zeiten sowie Tagen – und zwischen dem Kreisel an den Wohnhäusern in der Ostfrieslandstraße gilt nur in der Nacht Tempo 30.

Das verkehrliche Thema bewegt den ganzen Ort, dies zeigt auch eine spontane Umfrage auf dem Wochenmarkt. Wen man auch anspricht, zum Thema Durchgangsverkehr, man bekommt immer eine Antwort. In einem sind sich allerdings alle einig: Man müsse etwas gegen den Durchgangsverkehr unternehmen.

Dass etwas passieren muss, hat auch die Lokalpolitik verstanden

Dass etwas passieren muss, hat auch die Lokalpolitik verstanden und Anfang Juni einen Antrag für einen Verkehrsversuch Tempo 30 auf den Weg gebracht. „Wir hoffen auf eine Gesetzesnovelle, die gerade im Bundesverkehrsministerium in der Abstimmung ist und der Kommunalpolitik mehr Spielraum bei der Anordnung von Tempo 30 einräumt“, sagt David Dworzynski, verkehrspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion in der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte.

Fünf verschiedene Anordnungen für Tempo 30 gelten auf der Elbinsel. Selbst der Abendblatt-Reporter verliert irgendwann den Überblick.
Fünf verschiedene Anordnungen für Tempo 30 gelten auf der Elbinsel. Selbst der Abendblatt-Reporter verliert irgendwann den Überblick. © Lenthe-Medien | Lenthe-Medien

Aktuell sei die Anordnung vor Schulen, Kindergärten und an Unfallschwerpunkten der einzige Hebel, den man habe, um zumindest auf Teilabschnitten den Verkehr zu verlangsamen und die Ortsdurchfahrt für Berufspendler unattraktiv zu machen. Man habe zudem in den vergangenen Jahren die Bushaltebuchten zurückgebaut, um den Verkehr zu entschleunigen.

„Das kürzlich vorgestellte Mobilitätskonzept hat uns auf den Weg gegeben, dass die einzig wirkungsvolle Maßnahme Tempo 30 auf der gesamten Strecke ist. Der Verkehrsfluss müsste so verlangsamt werden, dass die Airbus-Pendler auf der etwas längeren Ortsumfahrung bleiben und der Durchgangsverkehr im Ort zurückgeht“, so Carina Oestreich, Vorsitzende des Regionalausschusses Finkenwerder.

Airbus-Pendler und Dauerstau: „Es ist absolut nötig, jetzt zu handeln“

Oestreich ist in Finkenwerder geboren und aufgewachsen und ist nun selbst Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern. Sie kann die Sorgen der Eltern nachvollziehen. Als sie mit der SPD-Fraktion 2019 die Anwohner von Finkenwerder zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen hätten, sei der Veranstaltungsraum – das Finkennest an der Westerschule – aus allen Nähten geplatzt.

„Daher haben wir schon weit vor dem schrecklichen Unfall in der vergangenen Woche das Thema ,Tempo 30 bewegt’ ­– und als Bedingung für den Neubau des Airbus-Dienstleistungszentrums – ein Mobilitätskonzept gefordert“, so die Lokalpolitikerin. Durch das neue Besucherzentrum und die Ansiedlung weiterer Unternehmen auf der Rüschhalbinsel sei eine weitere Zunahme des motorisierten Verkehrs schon jetzt prognostiziert. Es sei daher absolut nötig, jetzt zu handeln.

„Wir tun, was wir können, und haben deshalb einen wissenschaftlich begleiteten, aber zeitlich begrenzten Verkehrsversuch Tempo 30 auf den Weg gebracht“, so David Dworzynski. Der Jurist hat den Antrag ausgearbeitet. „Im Juni wurde der Antrag auch von der Bezirksversammlung einstimmig beschlossen“, so Oestreich, jetzt liege der Ball bei der unteren Verkehrsbehörde. „Wir hoffen, dass wir bald Tempo 30 auf der Hauptstraße realisieren können, um es mit dem neuen Bundesgesetz dauerhaft zu installieren“, so Carina Oestreich.