Margarete Ziegert war selbst nach dem Krieg ein Flüchtlingskind. Seit mehr als 30 Jahren engagiert sich die 79-Jährige

Jesteburg. „Der Schock war groß, als sich von einem Tag zum anderen mein Leben als neunjähriges Mädchen aus einer wohlbehüteten Familie änderte. Das Flüchtlingsdrama begann.“ Mit diesen Worten setzen die Erinnerungen der Jesteburgerin Margarete Ziegert ein, die im Januar 1945 das Kriegsende in Ostpreußen erlebt hat. Vielleicht sind diese Erlebnisse der Grund dafür, dass sich die heute 79-Jährige seit Jahrzehnten für die Betreuung von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten in Jesteburg engagiert und eheramtlich als Integrationsgebauftragte des Landkreises arbeitet. Die Angst und das Leid, das sie als junges Mädchen erleben musste, kann sie vor allem in den Augen der Menschen sehen, die aus Syrien in Jesteburg untergebracht sind.

Als das Dröhnen der russischen Panzer im eisigen Winter ihrem Heimatort Silberbach in Ostpreußen immer näher kam, versuchte die Familie der kleinen Margarete zunächst zu fliehen. Allerdings rückten die russischen Truppen so schnell vor, dass der Flüchtlingstross stecken blieb. Man suchte Schutz in einem verlassenen Dorf: „Ich habe in dieser Nacht eine Wahnsinnsangst ausgestanden, wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte bis dahin noch keinen toten Menschen gesehen. Jetzt lagen sie erforen am Straßenrand – Soldaten und Zivilsten.“ Da man nicht vorankam, entschied Ziegerts Mutter, umzukehren. Nachts klopften auf dem heimischen Hof verwundete deutsche Soldaten an die Tür, die um etwas Essbares bettelten und um ein Versteck baten. Es wurde ihnen ebenso gewährt wie den drei Flüchtlingsfamilien, die hier unterschlüpften, die noch vorhandenen Vorräte wurden mit allen geteilt.

Die kleine Margarete erlebte hautnah, wie ihre Heimat eingenommen wurde und die Besatzer sich alles nahmen, wonach ihnen der Sinn stand, Pferde und Kühe wurden mitgenommen. Immer wieder wurden die jungen Frauen weggeholt, „nach Jahren begriff ich, dass das Vergewaltigungen waren“. Ihre Mutter wurde nach Sibirien verschleppt und kehrte nicht zurück. „Ich dachte, dass sei das Ende meines Lebens. Meine Großmutter sprach immer wieder von Selbstmord zusammen mit uns Kindern.“

Im November 1945 schafften die Großeltern, damals 75 und 72 Jahre alt, gemeinsam mit Margarete und ihrem kleinen dreijährigen Bruder die Flucht im Viehwagon in Richtung Westen. Viele Menschen starben, die Leichen wurden aus dem Zug geworfen. Auch die Großeltern überlebten die Reise nicht. 1947 spürte der Vater, der in franzöischer Kriegsgefangenschaft gewesen war, durch den DRK Suchdienst seine Kinder auf, die kleine Familie kam schließlich bei einer Tante in Asendorf unter.

Die vielen Menschen auf der Flucht wurden von der einheimischen Bevölkerung ablehnend und misstrauisch beäugt: „Die meisten wollten die Flüchtlinge nicht – die aßen ja angeblich alles weg“, erinnert sich Ziegert. In der Schule wurden die Flüchtlingskinder von manchen Einheimischen drangsaliert. Dennoch schafften es die Kinder als erste in ihr neues Leben hinein zu wachsen, während die Erwachsenen lange unter sich blieben.

„Nach allem, was an Grausamkeiten in meiner Kindheit geschah, kann ich sagen, Gott hat mir das Leben zweimal geschenkt.“ Wie alle Menschen, die diese Zeit erlebt haben, weiß Margarete Ziegert, wie sich Krieg und Vertreibung anfühlen. Wohl auch deshalb war es ihr immer ein großes Anliegen, denjenigen zu helfen, die heute nach Deutschland kommen, weil in ihrem Land Krieg herrscht. Schon vor 30 Jahren gründete sie die Kleiderkammer in Jesteburg, um Flüchtlingen aus dem Libanon eine erste Hilfe zu bieten. Darunter war die damals 16-Jährige Mariam Wehbi. Damals sprach sie kein Wort Deutsch. Sie blieb und engagierte sich bald selbst ehrenamtlich über die Jahre für die Flüchtlinge, die später aus Bosnien, Somalia und heute vor allem Syrien kamen und in Jesteburg Zuflucht gefunden haben. Aktuell bringt sie sich im gesamten Landkreis Harburg als Sprachmittlerin für Arabisch in die Flüchtlingsarbeit ein.

Flüchtlingsarbeit in Jesteburg ist ohne Margarete Ziegert kaum denkbar. Und selbstversätndlich auch nicht ohne den großen Helferkreis, den es hier von Anfang an gab. Vor 30 Jahren waren es zunächst zwölf Menschen, die helfen wollten, Kleider verteilten und beim Schriftverkehr um die Asylverfahren Unterstützung anboten. Über die Jahre hat sich der Kreis der Helfer noch vergrößert und weiter engagiert. Bei der nächsten Flüchtlingswelle während des Bosnienkriegs waren es vor allem Albaner, die versorgt werden mussten. Viele blieben und brachten sich in späteren Jahren selbst in die Flüchtlingshilfe ein. Seit November 2013 sind es nun vor allem Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, die betreut werden müssen.

Und wieder machen sich Margarete Ziegert und die vielen anderen Helfer auf, um sie willkommen zu heißen. Bei ihren Besuchen im Hotel Niedersachen, wo die Flüchtlinge in Jesteburg untergebracht sind, haben sie Gastgeschenke wie Kekse, Obst und Tee dabei. Zurzeit leben hier rund 100 Flüchtlinge, der größte Teil ist männlich. Anfangs sind die Menschen zurückhaltend und skeptisch, aber „schon wenn man das zweite Mal vorbeikommt freuen sie sich riesig. Wir müssen dann in die Küche kommen und ihr Essen probieren, die sind unwahrscheinlich dankbar“, berichtet die rührige Seniorin.

Sie empfindet diese Begenungen als sehr wichtig, denn „diese Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten werden über Jahre bleiben“. Deshalb versuchen die Jesteburger Helfer von vornherein, ihre Schützlinge mit möglichst vielen anderen Gruppen im ort bekannt zu machen, zum Beispiel den Sportvereinen. Eine wichtige Rolle bei diesen Bemühungen spielt das Flüchtlingscafé „Farbenfroh“. Das Engagement lohnt. Bei der Weihnachtsfeier im vergangenen Dezember waren 40 Jesteburger dabei, die sich für die Flüchtlingshilfe interessierten. „Davon wünsche ich mir noch mehr“, sagt Margarete Ziegert.