„Undemokratisch“ und „amoralisch“: Über Nacht geschmiedete Fraktion sieht sich heftigen Angriffen ausgesetzt

Harburg. Das vergangene Wochenende sorgte für ein Novum in der Geschichte der Bezirksversammlung Harburg. Nur fünf Monate nach der jüngsten Bezirkswahl hält dort mit den neuen Liberalen eine siebte Partei Einzug, die gar nicht zur Wahl gestanden hat. Von führenden Vertretern der bisher vertretenen Parteien wird der Vorgang wahlweise als „undemokratisch“, „moralisch nicht vertretbar“ oder „schlechte Inszenierung“ bezeichnet.

Es war Freitagabend um 20.37 Uhr, als die Abgeordnete Barbara Lewy ihrer Fraktion in drei Sätzen mitteilte, dass sie die SPD verlassen und ihr Mandat mit zu den Neuen Liberalen nehmen werde. Nur eine Minute später folgte ihrem Beispiel Anna-Lena Bahl. Bereits gegen halb neun hatte zudem Isabel Wiest von den Grünen ihren Wechsel zu den Neuen Liberalen öffentlich gemacht. Womit klar war, dass in der Harburger Bezirksversammlung künftig Platz für eine sechste Fraktion geschaffen werden muss. Denn mit dem zuvor schon gewechselten Ex-Grünen Kay Wolkau verfügen die Neuen Liberalen jetzt über vier Mandate.

„Aus meiner Sicht wird die Fraktion durch diese Abgänge gestärkt“, kommentierte SPD-Fraktionschef Jürgen Heimath den personellen Aderlass. Zum Selbstverständnis der Partei gehöre, die Mehrheitsmeinung der Fraktion bei Abstimmungen mitzutragen. Wer das nicht könne, sei gut beraten, sich eine neue politische Heimat zu suchen.

Als in der jüngsten Bezirksversammlung über die Zuerkennung des Gruppenstatus für die beiden FDP-Abgeordneten Carsten Schuster und Viktoria Pawlowski entschieden wurde, hatte sich Lewy enthalten, Bahl sogar dafür gestimmt – gegen den Fraktionsbeschluss, geschlossen mit Nein zu votieren. „Da ahnte ich bereits, was kommt“, so Heimath. Spätestens aber, als Lewy am Mittwoch ohne Erklärung einer Ausschusssitzung fernblieb, zeitgleich aber an der Seite von Kay Wolkau gesichtet worden war. „Dass sie jetzt ihre Mandate in eine neue Partei mitnehmen, ist für mich mit demokratischen Prinzipien nicht vereinbar“, sagte Jürgen Heimath dem Abendblatt.

Auch die Grünen üben sich trotz Verlusts von zwei Mandaten in demonstrativer Gelassenheit. Fraktion und Kreisvorstand würden den Austritt von Isabel Wiest zwar mit Bedauern zur Kenntnis nehmen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Alles in allem sei sie aber erwartungsgemäß ihrem politischen Weggefährten und Mentor Kay Wolkau gefolgt. „Eine starke Opposition zeichnet sich nicht durch die Anzahl der Mandate, sondern durch starke Argumente, Geschlossenheit und großes Engagement aus“, so Fraktionschefin Britta Herrmann. In diesem Sinne sehe sich die Fraktion nicht geschwächt, sondern in ihrer politischen Kraft sogar gestärkt.

Für CDU-Fraktionschef Ralf-Dieter Fischer war die neue Konstellation absehbar und nur eine Frage der Zeit: „Dass wir jetzt eine Fraktion der Frustrierten haben, beunruhigt uns überhaupt nicht. Im Gegenteil: Es stärkt die Bedeutung der CDU für Harburg nur, weil wir der einzig stabile Faktor im Süden Hamburgs sind.“ Den Neuen Liberalen bescheinigt Fischer überdies eine schlechte Prognose. Bei der bevorstehenden Bürgerschaftswahl sieht er Neue wie alte FDP-Liberale „chancenlos“, beide Flügel würden gleichsam „pulverisiert“.

Das beurteilt der FDP-Abgeordnete Carsten Schuster erwartungsgemäß gänzlich anders. „Diese Hauruck-Aktion der Neuen Liberalen hat in Harburg schon jetzt viele Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit gesät“, sagt Schuster. Sie würden jetzt wie Kay aus der Kiste springen und sich Mandate anderer Parteien für eine Fraktion organisieren, die keinen Wählerauftrag hat. „Das ist nicht nur höchst fragwürdig und grenzwertig. Das hat auch nichts mit sozialem Liberalismus zu tun, den sie aber fortwährend propagieren“, so Schuster. Deshalb sei der Bedarf an den Freien Demokraten größer denn je, die es mit dem Liberalismus ernst nähmen.

Sabine Boeddinghaus, die am Sonntag mit 76,3 Prozent aller Stimmen ohne Gegenkandidatur auf Platz drei der linken Landesliste für die Bürgerschaftswahl gehievt wurde, sieht in der neuen Fraktion die „schlechte Inszenierung“ einer Gruppe von Abgeordneten, die von „verletzter Eitelkeit und Frustration“ getrieben sei. „Dass sie bisher wirklich für gewisse Ideale und bestimmte Inhalte eingestanden sind, ist oft nicht erkennbar“, sagt die Fraktionschefin der Harburger Linken.

Damit dürfte sie besonders Anna-Lena Bahl gemeint haben, für die es nach Stippvisiten in der CDU und der SPD bereits die dritte Partei innerhalb von vier Jahren ist. Wolkau war vor seiner Mitgliedschaft bei den Grünen auch schon in der FDP. Und Barbara Lewy wird Enttäuschung darüber attestiert, dass es nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Jürgen Heimath nicht zu einem Platz in der Fraktionsspitze gereicht hat. Unterdessen gehen nicht wenige SPD-Mitglieder davon aus, dass es bald weitere Austritten geben wird.