Demnächst wird ein neues Buch erscheinen. Titel: „Gesundheit für alle – Medizin in einem reichen Land“. Ich wurde gebeten, dazu ein Vorwort zu schreiben.

Das Buch widmet sich der Gesundheitspolitik. Und das ist ein wirklich heißes Thema! Die vielen Reformen des Gesundheitswesens machen bundesweit Schlagzeilen. Immer geht es darum, allen Menschen in unserem reichen Land eine anspruchsvolle medizinische Versorgung zu schaffen und eine solidarische Versicherung im Krankheitsfall zu garantieren. Die Debatten um Zuzahlungen bei Arztbesuchen – inzwischen abgeschafft –, die mangelnde ärztliche Versorgung auf dem Land, der zu geringe Verdienst bei Hausärzten, die Forderung, die private Krankenversicherung aufzugeben – das sind nur Beispiele für die Themen heftiger und öffentlicher Diskussionen über unser Gesundheitssystem.

Das Buch schildert eine interessante und beachtenswerte Initiative. 2010 hat Dr. Uwe Denker – nach 45 Jahren ärztlicher Tätigkeit und davon 30 Jahre als Hausarzt – das Projekt „Praxis ohne Grenzen“ initiiert. Und seine Erfahrungen waren erschreckend: In Bad Segeberg und Umkreis gibt es mindestens 50 arme Familien, die aus Scham nicht zum Arzt gehen.

Hochgerechnet auf das Bundesgebiet sind das etwa 800.000. Der Grund für diese hohe Zahl liegt darin, dass fast alle diese Menschen, die in Not geraten sind, nicht krankenversichert sind.

Es sind aber nicht die Obdachlosen und Flüchtlinge, die die Praxis auf dem Kirchplatz in Bad Segeberg zur kostenlosen Behandlung in größter Not besuchen. Das hätte ich erwartet. Der Großteil der Patienten sind gestrandete Mittelständler und Selbstständige zwischen 50 und 60 Jahren. Neu für mich ist, dass Selbstständige, die insolvent werden, oft keine Krankenversicherung haben, weil sie sie nicht mehr zahlen können. Sie können aber nicht aus einer privaten Versicherung in die gesetzliche überwechseln. Krankenhäuser lehnen auch bei einem Schwerstkranken eine Operation ab, wenn er weder versichert ist noch ausreichend Geld mitbringt.

Die drei Kernthesen des Buches lauten: Gesundheit ist ein Grund- und ein Menschenrecht. Das Gesundheitssystem hat Löcher. Armut macht krank – Krankheit macht arm.

In der „Praxis ohne Grenzen“ behandelt Dr. Denker selbst. Oder verweist an ein größeres Team von ehrenamtlichen Fachärzten. Medikamente und Operationen werden von dem Verein bezahlt. Das Geld kommt durch Spenden zusammen. Uwe Denker ist Netzwerker, Fundraiser und begeisterter Menschenfreund. Er arbeitet mit 70 hochengagierten Kollegen, mit Behörden, der Diakonie und anderen Organisationen zusammen. In acht Städten Schleswig-Holsteins hat er Praxen initiiert. Er berät bundesweit per Telefon und mit einem Leitfaden bei der Gründung einer neuen „Praxis ohne Grenzen“.

Inzwischen weiß ich von manchen Ärzten, die Menschen ebenfalls umsonst behandeln. Die Initiative Dunckers zeigt Wirkung. In Hamburg hat der gerade pensionierte Chefarzt und Professor eines Krankenhauses gemeinsam mit fast 20 Ärzten eine Praxis für nicht versicherte Menschen gegründet.

Bereits seit 2003 gibt es die „Malteser Migrantenmedizin“ mit Anlaufstellen in 13 Städten für Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten. Das Diakonische Werk in Hamburg hat eine Praxis mit zwei Frauenärzten für Frauen in Not eingerichtet. Ihr Name: „Andocken“. Auch hier kommt der Jahresetat durch Spenden zusammen.

Denker und seine Freunde erheben Forderungen an Politik und Krankenkassen. In „10 Thesen der Praxis ohne Grenzen“ gibt er Katastrophenalarm: „Schafft einen ‚Rettungsschirm‘ und eine Härtefallregelung für in Not geratene Kranke!“

Er fordert eine Grundsicherung für alle mit der Möglichkeit einer privaten Zusatzversicherung. Im Blick auf die Schulden vieler Mittelständler und vieler Selbstständiger verlangt er ein in kleinen Beiträgen zurückzahlbares „Patientendarlehen“ als Entschuldungshilfe sowie eine kostenfreie Krankenversicherung für alle Kinder, ob deutsche oder Kinder von Migranten. Dr. Uwe Denkers hervorragende Initiative ist ein Beispiel für einen Ausweg aus einer Lage, in der das Menschenrecht auf Gesundheit durchlöchert und eine gerechte medizinische Versorgung nicht gewährleistet ist.

Er gibt als Mensch, Arzt und Christ ein Beispiel. Ihm geht es wie vielen Ärzten um eine menschliche medizinische Versorgung. Und um ein gerechtes Gesundheitssystem. Sie orientieren sich an der Definition, wie sie die Weltgesundheitsorganisation bereits 1948 umfassend formuliert hat: „Gesundheit ist ein Zustand völligen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens…“ Nächstenliebe, Solidarität und Menschenliebe schließen – jedenfalls im christlichen Sinne – die Liebe ein, die ungerechte Strukturen auch politisch im umfassenden Sinn des Politischen verändern will. Liebe und soziale Gerechtigkeit sind Schwestern. Und wenn nicht, sie müssen es wieder werden.

Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor der St.-Michaelis-Kirche in Hamburg und schreibt an dieser Stelle alle 14 Tage seine Meinung zu kirchlichen, sozialen und ganz allgemeinen Themen auf.