Jürgen Bollmann ist eine Harburger Institution.

Fast 20 Jahre war er Propst für den Kirchenkreis Harburg mit seinen 17 Gemeinden. Von Wilhelmsburg bis Neuenfelde. Seit 2 Jahren ist er im Ruhestand. Ich besuche ihn in seinem Haus in Wilstorf. Mich interessiert, wie dieser Kirchenmann den Übergang in den Ruhestand erlebt und gestaltet hat.

Er blickt zunächst zurück auf 55 Monate in der Gemeinde, auf 99 Monate Mitarbeit im damaligen Missionszentrum der Nordelbischen Kirche und auf genau 19 ½ Jahre als Propst. „In Harburg bin ich tief verwurzelt. Ich kenne alle Gemeinden, Kirchen und Stadtteile,“ erzählt er. „Aber ich bin ein nachträglicher Harburger. Und ein ‚Spätberufener‘.“

Er hat einen interessanten Lebensweg. „Ich habe zunächst Industriekaufmann gelernt und habe bei BP gearbeitet. Dann in 30 Monaten in der Abendschule Abitur gemacht. Danach Betriebswirtschaft studiert. Das war auch nichts. Ich entschloss mich, Theologie zu studieren. Nach dem Vikariat und der Zeit als Pastor in der Gemeinde und im Missionszentrum kam ich nach Harburg. Die Zeit als Propst war meine intensivste und schönste Zeit.“

Seine Frau kommt zu uns, begrüßt mich und geht gleich wieder in den Garten. „Familie war und ist mir sehr wichtig. Unsere beiden erwachsenen Söhne leben auch hier. Der eine in Neugraben, der andere wie wir in Wilstorf. Meine Schwiegermutter ist gerade gestorben. Mit 92 Jahren. Sie lebte im Pflegeheim in Neuwiedenthal. Ich habe sie täglich besucht. Ich habe pietistische Wurzeln. Zur pietistischen Frömmigkeit gehört die Wertschätzung der Familie.. Ich habe bei der stets hohen Belastung immer versucht, Beruf und Familie gut zu vereinbaren.“

„Wie haben Sie Ihre Zur-Ruhesetzung erlebt?“, frage ich. „Ich hatte keine Zeit, mich darauf vorzubereiten, zumal ich neben den vielen Ämtern in der längeren Zeit der Bischofsvakanz stellvertretend als Bischof tätig war. Aber ich habe bis heute noch viele Aufgaben aus meiner aktiven Zeit. Und das ist gut so.“

Ich kann das bestätigen. Das Besondere und Schöne an unserem Beruf ist ja, dass wir zwar von allen Verpflichtungen entbunden sind. Aber die Rechte zu predigen und Seelsorger zu sein bleiben bis zum letzten Atemzug. Gefragt und gefordert zu sein tut gut. Gebraucht zu werden bedeutet Lebensqualität und Sinnerfüllung. Ich wünsche das allen Ruheständlern. Wer gesund ist und Langeweile hat, ist selbst schuld!

Mich interessiert, welche Ämter „der nachträgliche Harburger“ heute innehat. „Ich bin nach wie vor im Vorstand der Marie-Kroos-Stiftung, der Senioreneinrichtung in Heimfeld. Eigentlich Aufgabe der Pröpstin. Aber die Umbaumaßnahmen, die kompliziert und aufwendig sind, sollte und wollte ich zu Ende führen. Meine Erfahrungen als Betriebswirt kommen mir da zugute.“ Dass das Bauen für Kirchenleute anstrengend und zeitraubend ist, kann ich bestätigen. Die vielen Vorschriften und Auflagen machen das Bauen zur Arbeit wider Willen. „Seit 10 Jahren bin ich Vorstandsvorsitzender der Seemannsmission Hamburg-Harburg. Dem ‚Duckdalben‘ gehört meine besondere Aufmerksamkeit. Die Pläne für die Bebauung rund um den Harburger Hafen, dem Ursprung von Harburg, und die Schlossinsel verfolge ich mit großem Interesse. Zudem bin ich Vizepräsident der Deutschen Seemannsmission mit Sitz in Bremen. Mission ist eines meiner Lebensthemen.“

Dass Jürgen Bollmann vor kurzem Vorsitzender des Stadtteilbeirats Heimfeld wurde, war für ihn selbstverständlich. Als Pastor Schoeneberg ging und sich eine längere Vakanz anbahnte, sprang er ein. „Kirche muss bei den Menschen sein.

Und im Gespräch mit Vertretern der Politik, dem Bezirksamt, dem Gesundheitsamt, der Arbeitsagentur, den Vereinen und Initiativen sein. Ein Stadtteil ist nur lebendig, wenn alle an einem Strang ziehen.“ Der Propst in Ruf- und Reichweite zählt noch weitere Aufgaben auf: Vorstandstätigkeit im „Zentrum für Mission und Oekumene“ der Nordkirche, Aufsichtsratsvorsitzender des Besinnungszentrums in Breklum/Nordfriesland…

Am Ende unseres Gesprächs frage ich ihn nach den zukunftsweisenden Schwerpunkten der Kirche in Harburg. „Es geht um die Oekumenisierung der Kirche, also um mehr Verbindlichkeit im gemeinsamen Leben und Wirken der Konfessionen. Kirche muss immer Kirche mit anderen für andere sein. Beispielhaft zeigt sich das in der Integration von Migranten.

Die Gemeinden in Wilhelmsburg, Hausbruch, Neugraben und Kirchdorf haben die Russlanddeutschen und Menschen aus anderen Ländern in ihr Leben integriert. In Wilhelmsburg hat sich ein interreligiöser Kreis nach dem 11. September 2001 gebildet. Die Zusammenarbeit läuft erfreulich.“ Ich frage nach einem Leitbild des Kirchenkreises: „Kirche will Armut bekämpfen“, antwortet er. „Das ist auch angesichts von immer mehr Migranten und Flüchtlingen eine bleibende Herausforderung. Die Harburger brauchen Solidarität. Dafür sind sie sehr empfänglich.“

Ich verabschiede mich von Jürgen Bollmann. Er muss seinen Sohn im Krankenhaus besuchen. Das geht vor. Danach seine Predigt vorbereiten. Er leitet am Sonntag den Gottesdienst in Heimfeld. Die Pfarrstelle ist immer noch vakant. Der Gottesdienst war und ist ihm wichtig.