Der 83 Jahre alte Kurt Darjus erzählt von einer ganz normalen Kindheit in Harburg während des 2. Weltkrieges

Kurt Darjus will seine Geschichte nicht aus heutiger Sicht erzählen. Ihm ist es wichtig, die Dinge so zu schildern, wie er sie als Junge erlebte. Das schickt er voraus, bevor er aus einer Zeit berichtet, deren Grausamkeit sich noch heute schwer erklären lässt. Darjus setzt sich auf das Sofa im Wohnzimmer seines Reihenhauses in Hittfeld. Sein kleines rotes Büchlein legt der 83 Jahre alte Mann auf den Couchtisch. Das stünden alle seine Projekte drin, an denen er gerade arbeite.

Darjus sagt das nicht ohne Selbstironie. Er sei eben vernarrt in Geschichte, vor allem in Harburger Geschichte, weil er in Harburg geboren und aufgewachsen sei. „Die Leute schimpfen oft mit mir, weil ich wirklich jeden ollen Schnipsel Papier aufbewahre. Aber solche Dokumente haben für mich einen besonderen Wert“, versucht er seine Sammelleidenschaft zu erklären.

Der Mann hat ein unschätzbares Archiv mit Fotos und Dokumenten angesammelt, ist Mitglied des Fördervereins des Helms Museums und des Harburger Geschichtskreises. Jetzt will er seine eigene Geschichte erzählen, weil für ihn und viele andere aus seiner Generation ein wichtiges Datum bevor steht. Am 1. April 1944 wurden alle Hamburger Schulen wegen der Bombenangriffe geschlossen. Die Kinder kamen in die Kinderlandverschickung. Kurt Darjus will seine Geschichte erzählen, weil es wichtig sei, dass Geschichte in den Köpfen der Menschen bleibe und immer mehr Zeitzeugen inzwischen tot seien.

Geboren wurde Kurt Darjus am 19. November 1930 im Krankenhaus Harburg-Wilhelmsburg, im Städtischen Allgemeinen Krankenhaus am Irrgarten. Auch dieses Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Heute lernen hier Studierende der Technischen Universität Hamburg-Harburg. „Damals war Harburg noch preußisch. Erst ab 1937 gehörte es zu Hamburg“, sagt Darjus. Seine Kindheit verbrachte er im Haus seiner Großeltern an der Kreuzstraße4. „Den Namen kennt kaum noch jemand. Heute ist das der Compeweg. Zuerst besuchte ich die Knaben-Volksschule in der Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße. Direkt daneben stand mal das Harburger Stadttheater. Die Schule wurde 1944 zerstört“, erinnert sich Kurt Darjus.

Als der Krieg im September 1939 beginnt, ist er acht Jahre alt. „Natürlich konnten wir Jungs uns überhaupt nichts unter Krieg vorstellen. Angst hatten wir nicht. Im Gegenteil, wir fanden alles ziemlich spannend. Bevor der Krieg begann, hieß es, die Dachböden müssten entrümpelt werden wegen der Brandgefahr. Dann tauchten Handwerker in unserem Haus auf, um die Kellerräume abzustützen und Brandschutztüren einzubauen. Die Wände zwischen den Wohnhäusern in den Kellern wurden eingerissen und mit einem Stein wieder zugemauert, um sie im Brandfall schnell öffnen zu können. Das hat vielen Menschen später das Leben gerettet. Wie Jungs eben so sind, fanden wir das alles aufregend“, so Darjus, dessen Vater schon vier Wochen vor Kriegsbeginn eingezogen wird, und den er in all den Jahren nur ein Mal für wenigen Wochen zu Gesicht bekommt.

Kurt und seine Freunde sind auch begeistert, wenn die Feuerwehrleute ihre Löschübungen am Sand machen. „Da haben wir immer zugesehen. Ab und zu durften wir auch mal löschen.“ Im September 1939 fallen die Deutschen in Polen ein. Kurt Darjus begreift nicht, was das Wort Krieg wirklich zu bedeuten hat. Bisher ist alles für ihn und seine Freunde, „Geschwister hatte ich leider nicht“, ein großer Spaß. „Wir hatten zwar in der Schule in Büchern über den ersten Weltkrieg gelesen, aber der erste Weltkrieg war ein anderer Krieg.“ Im November 1939 feiert Kurt seinen neunten Geburtstag, im Mai 1940 fallen die ersten Bomben auf Harburg.

„Das war in der Buxtehuder Straße. Meine Mutter, sie war Luftschutzwartin, machte mit ihrem Fotokasten Fotos von den zerstörten Häusern. Das war verboten. Man zeigte keine Zerstörung auf dem eigenen Gebiet. Es waren die ersten Bomben, die überhaupt auf Hamburg fielen. Am nächsten Morgen setzte eine richtige Völkerwanderung ein. Die Leute kamen aus Hamburg, um die Zerstörung zu sehen“, erzählt Kurt Darjus. Die Fotos und den Fotoapparat besitzt er heute noch.

Seine Mutter habe ihn geweckt und ihm erzählt, er solle ans Fenster gehen, draußen sei Feuerwerk. Dann sei ein Nachbar gekommen und habe gesagt, alle müssten in den Keller. Nach dem Angriff gehen Kurt und seine Mutter wieder in ihre Wohnung zurück. In dieser Nacht habe er zum ersten Mal Angst bekommen. Nicht wegen der Bomben. „Meine Mutter musste natürlich los. Als ich in dieser Nacht alleine war, habe ich mich wirklich gefürchtet.“ In dieser Nacht, so Darjus, sei auch die alte Kaserne, in der damals das Finanzamt war, getroffen worden. Zwei Tote, glaubt er zu erinnern, habe es beim ersten Bombenangriff auf Harburg gegeben.

Später gibt es immer mal wieder vereinzelte Angriffe. „Wir Jungs hatten ein Spiel. Nach den Angriffen zogen wir in die Trümmer. Wer den größten Bombensplitter fand, hatte gewonnen.“ Nach der vierten Klasse wechselt Kurt 1941 in die Oberschule für Knaben am Postweg, das heutige Friedrich-Ebert-Gymnasium. Inzwischen ist Kurt Mitglied im Jungvolk. „Das war damals so, wir mussten in diese Jugendorganisationen eintreten.“ Seine alte Volksschule wird 1944 durch Bomben zerstört. Heute steht dort die Sporthalle Kerschensteiner Straße.

Kurt Darjus verblüfft seine Zuhörer durch sein Erinnerungsvermögen. Obwohl all dies mehr als 70 Jahre her ist, sind Vorfälle und Daten in seinem Gedächtnis abgespeichert. „Trotzdem fehlen mir manche Sachen, und ich ärgere mich sehr, dass ich meinen Eltern, meine Großeltern nicht mehr Fragen gestellt habe. Zum Beispiel war meine Großmutter mal während eines Bombenangriffs mehrere Tage in den Trümmern verschüttet. Da ist nie ein Wort drüber verloren worden. Ich habe sie nie gefragt, was sie damals gefühlt oder gedacht hat“, sagt Kurt Darjus.

„Bis 1944 war es für uns eigentlich eine schöne Zeit. Wir waren im Jungvolk, haben viel gespielt, Geländespiele gemacht, eben all das getan, was Jungs so begeistert. Und, ich will ehrlich sein, wir haben der Hitlerjugend geradezu entgegen gefiebert. Uns war damals nicht klar, was die Nazis mit ihren Jugendorganisationen bezweckt haben. Und wir waren damals nicht kritikfähig“, sagt Darjus. Wie unbedarft sie gewesen seien, zeige die Tatsache, dass einer ihrer Kameraden „Halbjude“, Sohn eines bekannten Harburger Geschäftsmannes, gewesen sei. „Alle wussten das. Der hat mit uns gespielt, der wurde von unseren Gruppenleitern genauso behandelt wie alle anderen.“ Auch Hunger habe er zu diesem Zeitpunkt nicht gekannt, der sei erst viel später gekommen, in der Kinderlandverschickung und nach dem Krieg.

Noch heute besitzt Darjus sein Schulhelft aus dem Jahr 1944. Darin steht die von ihm geschriebene Einladung an die Mutter. Die Eltern sollen am 23. März um 15 Uhr in die Sporthalle, heute Friedrich-Ebert-Halle, kommen. Dort wird die Schulleitung ihnen erklären, wie die anstehende Kinderlandverschickung ablaufen wird. Inzwischen werden die Bombenangriffe immer schlimmer. Darjus zeigt die Abmeldebescheinigung vom Jungvolk, gezeichnet von „Mädelringführerin“ Ilse Krack. „Gezwungen wurde niemand, seine Kinder weg zu schicken, aber diese Kinderlandverschickung hat doch vielen Menschen das Leben gerettet. Die Kinder, die bleiben, konnten auch nicht weiter zur Schule gehen, weil die geschlossen wurden.“

Kurt Darjus fährt kurze Zeit nach der Elternversammlung mit seinen Klassenkameraden und den Lehrern nach Bad Treplitz im damaligen Tschechien, das die Nazis das „Protektorat Böhmen und Mähren“ nennen. Kurt ist inzwischen 14 Jahre alt. Die Jungs haben Unterricht, müssen aber auch arbeiten, zum Beispiel Versorgungswaggons der Wehrmacht entladen. „Nach Weihnachten 1944 hieß es, die Russen rücken immer näher. Wir hörten auch schon den Geschützdonner. Wir wurden also nach Jermer in Tschechien gebracht. Dort sahen wir schon die Flüchtlingstrecks, als sie noch geordnet Richtung Westen zogen. Wir mussten die Leute in der Turnhalle und im Kinosaal versorgen. Der Dienst war bei uns besonders beliebt, denn inzwischen wussten wir, was Hunger ist. Die Mädchen vom Roten Kreuz gaben uns oft auch etwas zu essen.“ Ansonsten steht in dieser Zeit immer öfter gekochte Brennesseln oder Sauerampfer auf dem Speiseplan der Jungs.

Kurze Zeit später werden Darjus und die anderen Jungs aus Harburg nach Wiesenfelden in Bayern verlegt. „In einem Schloss haben wir den Einmarsch der Amerikaner erlebt.“ Kurt Darjus kann sich gut daran erinnern, als zwei amerikanische Soldaten, die das Schloss für sich beschlagnahmen, die „Stube, wo wir schliefen, inspizierten. Der eine nahm unser Hitlerbild von der Wand und schmiss es auf den Boden. Einer von uns hob es wieder auf und hängte es wieder an die Wand. Wir waren einfach empört und nicht begeistert von der Idee, diesen Krieg verloren zu haben. Am liebsten hätten wir weiter gekämpft. Das hört sich heute verrückt an.“ Die Jungs haben entsetzlichen Hunger. Eines Tages schleichen sie sich in den Aufenthaltsraum der GIs und stehlen kleine Pakete vom Tisch, weil sie denken, darin etwas Essbares zu finden. Es sind Patronen. „Damit konnten wir natürlich gar nichts anfangen“, erinnert sich Darjus.

Kriegsende Mai 1945. „Es gab keine Post mehr. Wir wussten nicht, was los war. Wir wurden auf umliegende Bauernhöfe verteilt. Aber wir wollten nur noch nach Hause. Zwei Klassenkameraden und ich haben unsere Bettwäsche von der Kinderlandverschickung bei den Bauern gegen Essen eingetauscht und sind Richtung Harburg losmarschiert“, erzählt Darjus. Drei Wochen brauchen die Jungs, geraten in Erfurth in amerikanische Gefangenschaft, werden wieder laufen gelassen. „Dann kamen wir nach Hause und sahen unser schönes Harburg in Trümmern liegen“, schließt der studierte Betriebswirt, der bis zu seiner Pensionierung bei der Lufthansa tätig war, seine Geschichte.