Pünktlich um 12 Uhr ertönen die Glocken der St. Johanniskirche. Den Ursprung dieser Tradition kennen nur noch wenige

Harburg. Wer im Harburger Zentrum im Büro arbeitet, weiß, an welchen Minuten des Tages es aussichtslos ist, ein Telefonat zu führen. Wer eine Arztpraxis aufsucht oder in der Fußgängerzone einkauft, kann es nicht überhören: Jeden Tag um 12 Uhr mittags entfachen die fünf Glocken im etwa 40 Meter hohen Turm der St. Johanniskirche an der Bremer Straße ein mächtiges Geläut, obwohl gar kein Gottesdienst ansteht. Den Grund dafür dürften nur wenige Eingeweihte kennen: Die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde St. Trinitatis läutet für den Frieden. Das Friedensläuten in Harburg begann mit dem Zweiten Golfkrieg im Jahr 1991 – und dauert bis heute an.

Die Menschen in Harburg haben den Glockenklang offenbar voll akzeptiert. Beschwerden habe es nie gegeben, sagt Pastorin Sabine Kaiser-Reis. Das Friedensläuten um 12 Uhr werde in Zukunft aber dezenter ausfallen, kündigt sie an. Nur noch eine der insgesamt fünf Glocken werde für den Frieden schlagen. Dass alle verfügbaren Glocken mittags läuten, geht auf einen Zivildienstleistenden zurück. „Das Läuten wurde erst so laut, als er die Glocken programmiert hat. Der Zivildienstleistende hat uns sein Vermächtnis hinterlassen“, schmunzelt die Pastorin.

Zu Beginn des Jahres 1991 konnte das Läuten zur Abwehr der Kriegsgefahr nicht laut genug sein. Der schwerste Krieg seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand unmittelbar bevor. Am 17. Januar 1991 begann eine internationale Armee unter der Führung der Vereinigten Staaten mit einem Mandat der Vereinten Nationen, den so genannten Zweiten Golfkrieg zur Befreiung des Staates Kuwait, den der Irak im August 1990 gewaltsam besetzt hatte. Als Erster Golfkrieg gilt der Krieg zwischen dem Iran und Irak von 1980 bis 1988.

Wie viele Menschen auf der Welt sorgte sich Sabine Kaiser-Reis um den Frieden. Mit einer Kerze in der Hand habe sie vor dem US-Konsulat in Hamburg in einer Menschenkette gestanden. „Schweigen für den Frieden“ hießen diese Demonstrationen. Vor und während des Zweiten Golfkrieges seien viele Menschen immer mittags in der St.-Johanniskirche zu Andachten zusammengekommen. Der damalige Kirchengemeinderat (früher: Kirchenvorstand) führte das Friedensläuten ein.

Der Krieg um Kuwait („Operation Wüstensturm“) endete am 28. Februar 1991 mit der militärischen Niederlage des Irak. Die Teilnahme zu den Friedensandachten nahm mit den Monaten spürbar ab. Am Ende beteiligte sich nur noch das Personal der Kirchengemeinde daran. „Das Geläut und die Erinnerung an die Friedensgebete aber sind bis heute geblieben“, sagt Sabine Kaiser-Reis. Im Kirchengemeinderat in der St.-Trinitatisgemeinde gebe es auch keine Diskussion darüber. Warum läuten die Glocken um 12 Uhr mittags? Sozusagen auf der Höhe des Tages sollen sie den Menschen daran erinnern, inne zu halten und sich den Frieden bewusst zu machen, erklärt die Pastorin.

In der Freien und Hansestadt Hamburg gebe es noch weitere einzelne Kirchengemeinden, die am Friedensläuten festhalten, heißt es beim Kirchenkreis Hamburg-Ost. Das Friedensläuten hat eine Jahrhunderte alte Tradition und geht bis auf das Jahr 1453 zurück, als die Osmanen Konstantinopel eroberten. Damals hieß es noch „Türkenläuten“ und wurde eingeführt als Aufruf zum Gebet zur Abwehr von Kriegsgefahr. Erst mehr als 250 Jahre später wurde es in Friedensläuten umbenannt.

Dass die Evangelisch-Lutherische St.-Trinitatisgemeinde in Harburg mit ihrem Friedensläuten auch in der Tradition des ursprünglichen „Türkenläutens“ stehe, weil sich in der Nachbarschaft zur St.-Johanniskirche mittlerweile drei muslimische Gemeinden angesiedelt haben, weisen Sabine Kaiser-Reis und der Kirchenkreis Hamburg-Ost zurück. Die Idee beruhe allein auf die Andachten zum Zweiten Golfkrieg. Die Trinitatisgemeinde beteilige sich am interkonfessionellen Arbeitskreis.

Kirchenglocken läuten längst nicht nur, um zum Gottesdienst zu rufen. Die Glocken der St.-Johanniskirche sind auch zum sogenannten Stundengeläut programmiert: Jeden Tag zwischen 8 und 22 Uhr erklingt alle 15 Minuten eine Glocke und dient den Menschen im Stadtteil zur zeitlichen Orientierung.

Auf einen Programmierfehler geht das Läuten außer der Reihe an der Dreifaltigkeitskirche an der Neuen Straße zurück, neben St. Johannis das zweite Gotteshaus der Evangelisch-Lutherischen Trinitatisgemeinde: Weil die Umstellung an der Dreifaltigkeitskirche sehr kompliziert sei, sagt Sabine-Kaiser-Reis, läuten zurzeit die Glocken an St. Johannis zur Sommerzeit und an der Dreifaltigkeitskirche zur Winterzeit.

Voraussichtlich im nächsten Jahr wird der rund 40 Meter hohe Glockenturm der St. Johanniskirche hinter einem Gerüst verschwinden. Die Sanierung des Betons und der Fenster sei dringend nötig, sagt die Pastorin. Die Kirche an der Bremer Straße sei 59 Jahre alt und eines der ersten Gotteshäuser in Hamburg, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden.