Beim Brückenjahr stehen Kindertagesstätten und Grundschulen in einer Konkurrenzsituation. Eltern werden unter Druck gesetzt.

Harburg. Am Donnerstag hat sich die die kleine Julia sehr gewundert. Vorbei an ihrer Kita ist Mama Constanze mit ihr zur Schule marschiert. Mit großen Augen hat die viereinhalbjährige Julia das Gewusel der Schüler auf dem Schulhof beobachtet. Sie fühlte sich dabei nicht wohl in ihrer Haut. "Die Kinder hier sind so groß und ich bin noch so klein, das gefällt mir nicht", ließ das Mädchen wissen. Und dass es in ihrer Kita sowieso viel schöner sei.

Solche Erfahrungen machen dieser Tage etliche Eltern. Grund ist das sogenannte "Vorstellungsverfahren für Viereinhalbjährige". Es dient dazu, die körperliche, geistige und emotionale Entwicklung der Erstklässler in spe zu beurteilen, besondere Begabungen, aber auch mögliche Defizite frühzeitig zu erkennen. Deshalb werden sie von Grundschulpädagogen bei Ratespielen, Puzzles und beim Anschauen von Bilderbüchern aufmerksam beobachtet, müssen sich Sprach- und Bewegungstests stellen.

Eine wichtige Rolle in diesem Verfahren spielen die Kindergärten. "Da Kitas die Kinder viele Jahre begleiten, sind sie über ihren Entwicklungsstand bestens informiert. Sie können Stärken und Schwächen am besten einschätzen und wissen, ob es speziellen Förderbedarf gibt oder nicht. Deshalb ist die Kooperation mit den Schulen so wichtig", sagt Claudia Tusch, Leiterin der Heimfelder Grundschule Weusthoffstraße. Zumal im Anschluss des Viereinhalbjährigentests die Entscheidung ansteht, wo das Kind die Vorschule absolvieren soll. Denn anders als im übrigen Bundesgebiet ist das sowohl an Grundschulen, als auch an Kitas möglich. Und hier fangen die Probleme an. Nicht nur für die Eltern.

"Wichtig ist, dass Kinder den Übergang von der Kita zur Schule nicht als Hürde erleben", sagt Christoph Kose von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Deshalb müsse bei der Frage, wo die Vorschule absolviert wird, immer vom Entwicklungsstand des Kindes ausgegangen werden. Das beurteilen die Pädagogen an Grundschulen und Kitas prinzipiell genauso. "Es gibt Kinder, die buchstäblich reif für die Schule sind. Es gibt aber auch welche, denen grundsätzliche Voraussetzungen fehlen und deshalb in der Kita bleiben sollten", sagt Rainer Kühlke, Leiter der Integrativen Grundschule Grumbrechtstraße. Seine Kollegin Claudia Tusch sieht es so: "Kinder, die bereits weit sind und viel Input brauchen, sollten das Brückenjahr schon in der Schule verbringen. Kinder, für die eine enge emotionale Beziehung noch wichtiger ist, sind in der Kita besser aufgehoben."

Für die Pädagogen an Kitas ein ganz wesentlicher Aspekt "Eine stabile Bindung ist für Kinder in diesem Alter enorm wichtig. Nur so kann Erziehung funktionieren", sagt Britta Sell von der Kita St. Petrus. Deshalb sollten Kita-Kinder im Brückenjahr auch dort bleiben. Zumal sich dort in der Regel zwei Erzieherinnen um die Vorschüler kümmern würden, während an Schulen oft nur eine Fachkraft verfügbar sei. "Zwischen vier und sechs Jahren öffnen sich Kinder für Interaktion. Ihnen in dieser Zeit individuell gerecht zu werden, kann die Kita oft besser leisten als die Schule", so Sells Kollegin Brunhilde Franke von der Kita St. Paulus.

Sorgen, dass Vorschulkinder aus Kitas in der ersten Klasse Probleme haben, sind übrigens unbegründet. Und das nicht erst seit Einführung von verbindlichen Eckpunkten und Qualitätskriterien, wie sie die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und die Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten (VHK) in einer gemeinsamen Initiative im Herbst des Vorjahres fixiert haben - orientiert an den Hamburger Bildungsempfehlungen. "Wir stärken im Brückenjahr nicht nur das Selbstbewusstsein der Kinder, wir vermitteln auch mathematische und naturwissenschaftliche Grundkenntnisse, fördern Sprachkompetenz und Motorik, musische und soziale Kompetenz", sagt Dr. Franziska Larrá von der VHK.

Zwar gibt es an Kitas im Gegensatz zur Grundschule (25 Stunden pro Woche) nur an zwei Tagen je fünf Stunden spezielle Vorschulkurse. Dafür aber sehr niveauvoll: In der Kita St. Petrus werden die Vorschüler beispielsweise von einer Fachkraft für naturwissenschaftliche Früherziehung und einer Fachkraft für Musik und Bewegung betreut. "Die Kita ist ganz klar zur Bildungseinrichtung geworden, die Kinder werden hier bestens auf die Einschulung vorbereitet", so Britta Sell.

Dennoch sinkt die Zahl der Vorschüler an Kitas von Jahr zu Jahr. "Es gab Zeiten, da hatten wir eine eigene Vorschulgruppe mit 20 Kindern. Im Vorjahr waren es noch elf, in diesem Jahr sind es nur noch neun", berichtet Brunhilde Franke von der Kita St. Paulus. Entsprechend verzeichnen Grundschulen eine ständig steigende Zahl an Vorschülern. Laut Thomas Bressau von der Behörde für Schule und Berufsbildung waren es im Bezirk Harburg im Schuljahr 2011/12 exakt 801 und damit 239 mehr als vier Jahre zuvor.

"In Hamburg gibt es zwei unterschiedliche Angebote für die gleiche Zielgruppe, die in einem Qualitätswettbewerb stehen", sagt Nicole Serocka, Sprecherin der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration. Deutlicher benennt den Kampf um die Vorschulkinder Britta Sell: "Es gibt eine Konkurrenzsituation. Und es gibt Schulen, die wenig kooperativ sind und Kinder offensiv abwerben." Das bestätigt auch Brunhilde Franke: "Wenn Eltern gesagt bekommen, dass eigene Vorschüler bei der Einschulung Vorrechte haben, wird damit unterschwellig Druck ausgeübt."

Es gibt aber auch Gegenbeispiele. So habe sich jüngst eine Schule bei ihr gemeldet, um über ein Kind zu sprechen, das vielleicht doch noch ein Jahr in der Kita bleiben sollte. Das gilt übrigens auch für die kleine Julia. Die jetzt noch zwölf Monate länger das sichere Gefühl auskosten darf, zu den Großen unter den Kleinen zu gehören.