Eigentlich schreibt er nur seinen Namen: Ein Atelierbesuch bei Mirko Reisser in Rothenburgsort, der Street Art ins Museum gebracht hat.

Rothenburgsort. Wenn es stimmt, dass jedes Bild ihn selbst porträtiert, dann muss der Mann, der dort einen Meter entfernt auf der beigefarbenen Polstercouch sitzt und an den Grünpflanzen vorbei aus dem Fenster schaut, ausgeglichen, präzise, womöglich sogar auf eine kühle Weise perfekt sein. Mirko Reisser ist Street Art Künstler. Mittlerweile richtig erfolgreich. Einer, der fast ausschließlich seinen Namen schreibt. Genauer genommen die Buchstaben D-A-I-M. Mal konstruiert, mal dekonstruiert er sie in leuchtenden Farbexplosionen.

Reisser sitzt im Atelier an der Billhorner Brückenstraße, im Haus mit dem Mercedes-Stern. Ein klappriger Aufzug fährt in den dritten Stock, wo Mirko Reisser, in der Szene besser bekannt als Daim, in der Ateliergemeinschaft "getting up" residiert. Eine großzügige Fabriketage, in der sich die Leinwände säuberlich verpackt in der Ecke stapeln. Schon hier ahnt man: Seit den ersten illegalen Sprühaktionen in Altona und heute müssen ein paar Jahre und lukrative Aufträge ins Land gegangen sein: Nächstes Jahr wird Reisser 40, mehr als 20 Jahre an der Sprühdose.

Eigentlich habe er mit seinen 17 Jahren damals spät angefangen, findet er. Mirko Reisser hat es sich auf der Polstergarnitur bequem gemacht, trägt gefütterten Kapuzenpulli und kleine Brille, könnte als Informatiker oder Matheass durchgehen, irgendwas mit Präzision und einer Prise schöpferischem Wahnsinn, Detailverliebtheit. Jungenhaft sieht er aus, hinter dem Fenster liefert der rauschende Verkehr der Elbbrücken einen permanenten Klangteppich, der ideale Ort für einen Street Art Künstler. Mittendrin, am Beat der Stadt.

Es waren die 80er-Jahre und vielleicht so etwas wie ein Lebensgefühl: die Hip Hop-Musik, Selbstversuche als DJ, natürlich das Skateboard und - das Sprayen von Graffitis. Während die anderen Phänomene kamen und gingen, wusste Reisser nach dem ersten großen Bild: "Das ist es." Schnell machte er aber auch eine andere Erfahrung: Bald griff ihn die Polizei auf, und es gab eine Anzeige. Rückblickend sagt er: "Es war gut, dass das so früh kam." Also suchte er sich lieber legale Wände für die Arbeit. Zwei Jahre später, nach dem Abitur mit 19 Jahren, konnte er bereits vom Sprayen leben. Hätte er nicht auf eine Karte gesetzt, wäre da immer diese Angst, etwas so Wichtiges wie das Sprayen nur hobbymäßig zu betreiben. Auch heute kennt er Ärzte, die am Wochenende aus Leidenschaft ihrem alten Hobby nachgehen und an Wänden ihre Spuren hinterlassen: Es gibt da die verrücktesten Kombinationen.

"Es geht um Styles", erklärt Reisser. Für einen Künstler ist es wichtig, unverwechselbar zu sein. Mirko Reisser ist in der Szene bekannt für seinen 3D-Style. Dynamisch scheinen Buchstaben und Pfeile auf den Betrachter zuzustreben. Fragil und als massive Setzung zugleich. Verspielt, jedoch auch streng mathematisch definiert bewegen sie sich zwischen Schöpfung des Wortes und seiner farbig flirrenden Dekomposition. Eine Mischung aus Graffiti, architektonischer Spielerei, kalligraphischen Studien und Anklängen an die Ästhetik von Popkultur und Werbung.

Obwohl: Was zuerst da war, muss wohl eher gefragt werden, denn das Marketing liebt es, Autos oder Turnschuhe besser an die jugendliche Zielgruppe zu verkaufen, indem sie es vor cool gesprühten Wänden präsentiert. Anfang der 90er war Reissers Stil eine kleine Revolution: Denn Daim ließ die typischen schwarzen Umrandungen der Graffitis weg, die "Outlines", und ließ seine Buchstaben aus dem präzisen Spiel von Licht und Schatten entstehen. Mittlerweile zählen Firmen wie Vattenfall, die Werft Blohm+Voss oder andere Unternehmen zu den Kunden, die sich auch in Firmenzentralen etwas sprayen lassen. Ideal ist ein Großauftrag pro Jahr, die Ateliergemeinschaft ist vielfältig gebucht. Mirko Reisser geht es darum, seine künstlerische Handschrift immer weiter zu entwickeln. Fast ein wenig wie eine Selbstanalyse. Und auch der Weg ins Museum ist für ihn kein Widerspruch zur ehemals subversiven Urban Art. "Schließlich ist das Museum auch ein öffentlicher Raum", sagt Reisser, der mittlerweile sein Können auch in ehrwürdigen weißen Hallen zeigt oder in dem Kunstsammler Rik Reinking einen Liebhaber und Sammler seiner Arbeiten gefunden hat.

Auch wenn Daims Arbeiten einen hohen Wiedererkennungswert ausstrahlen, so hat ihr Urheber doch bereits alles einmal auf den Prüfstand gestellt. Und zwar in Form eines Studiums der Freien Kunst in der Schweiz, das er sich in jungen Jahren allein vom Sprayen zusammensparte. Hier gab es natürlich keine Professoren, die fit in seiner Disziplin waren, doch die Möglichkeit, auszuprobieren und über den "Tellerrand zu schauen".

Reisser experimentiere und machte ruhig auch mal die Materialität der Sprühfarbe in Form von Spritzern und Drippings sichtbar, wodurch Spontaneität in die perfekte Technik kam - eine Sache, die von der Szene sonst als technisch minderwertig betrachtet wird, und mit der man sie damals richtig schocken konnte.

Daim hat die Szene vielleicht ein wenig mitgestaltet. 1999 gründete er "getting up", die Ateliergemeinschaft, und da man nicht zufrieden war, wie Street Art bis dato gezeigt wurde, organisierten sie gleich noch die "Urban Discipline Ausstellung". Eingeladen wurden internationale Street Art-Künstler, um so etwas wie ein Bild der Szene, ein Who-is-Who der Sprayerkunst in der Hansestadt zu versammeln. Mit Künstlern aus Brasilien, den USA, und sogar der Undercover-Held Banksy aus London kam und wurde von Mirko Reisser vom Flughafen abgeholt. Naturgemäß trat er nicht für die Presse in Erscheinung. Doch damals kosteten seine Werke nur 500 Euro, heute liegen sie wohl eher bei 50 000 Euro.

Zu den großen Referenzobjekten, die im Kontext von Daims Erfolgen immer wieder aufgezählt werden, gehört jene Hochhauswand in Bergedorf, mit der der Künstler und seine Kollegen es bis ins Guiness-Buch der Rekorde schafften. Oder jenes gigantische Dockgemälde an Dock 10 von Blohm+Voss. Auch wenn seine Pieces und Leinwände mittlerweile schon mal in der Von-der-Heydt-Kunsthalle in Wuppertal oder in der Weserburg in Bremen hängen, so schlägt das Herz doch auch ein bisschen für das rockig, laute und so urbane Rothenburgsort, wo das Atelier schon lange steht. Auf einem tristen Betonhochhaus explodierten deswegen eines Tages die Sprühdosen der Getting-up-Künstler .Und zwar unter anderem gesponsert von der SAGA/GWG. "Identität" heißt die Arbeit am Marktplatz in Rothenburgsort, mit der die Künstler ein Zeichen für den Stadtteil setzen wollten.

Naturgemäß ist Reisser ein guter Abnehmer bei den beiden Herstellern von Sprühfarbe in Deutschland, auf die er beide gleichmäßig gerecht seine Zuneigung als Käufer verteilt. In seinem Atelier an der Wand hängt eine Schautafel mit den feinsten Farbschattierungen. Mittlerweile ist die bunte Phase allerdings vorbei, die Vorliebe für die Farbe lila schon wieder abgeebbt und ein Trend zur Reduzierung auszumachen.

Kann man gut von der Arbeit als Street Art-Künstler leben? Auf so eine direkte Frage gibt es natürlich keine eindeutige Antwort, aber ein zufriedenes Grinsen. Und auf noch etwas freut sich der Künstler: Seine Eltern reagierten damals auf seinen "abstrusen" Berufswunsch entspannt. Mittlerweile ist Reisser selbst zweifacher Vater und gespannt, auf was für ein abstruses Berufsbild sein eigener Sohn wohl einmal kommen mag, um ihn auf die Probe zu stellen. Aber noch steckt der in den Kindergartenschuhen.

Aktuell sind Arbeiten von Mirko Reisser als Gruppenausstellung in der Kunsthalle Wuppertal zu sehen.