Passanten ansprechen oder niedere Arbeiten verrichten - so brachten die kleinen Gymnasiasten 458,98 Euro zusammen.

Harburg. Mit zerlöcherten Hosen stehen Melisa (9) und Ganze (10) in der Mönckebergstraße und bitten Passanten um Geld. Einige Obdachlose vor den Kaufhauseingängen und der Verkäufer des Straßenmagazins "Hinz und Kunzt" am Gerhart-Hauptmann-Platz nehmen die neue Konkurrenz in ihrem Revier ohne Regung zur Kenntnis. Mit Kennerblick dürften sie sehen, dass der Lumpenlook der beiden Mädchen nicht echt ist. Das Ganze ist ein Rollenspiel: Melisa und Ganze schlüpfen in die Haut von Straßenkindern, um auf Kinder in Not aufmerksam zu machen.

25 Jungen und Mädchen der Klasse 5b am Harburger Alexander-von-Humboldt-Gymnasium haben gestern für zwei Stunden in Hamburgs City "auf der Straße gelebt". "Sichtwechsel" heißt die Aktion der Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes. Anlass ist die Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention am 20. November 1989 - also am heutigen Freitag genau vor 20 Jahren. Terre des Hommes will darauf hinweisen, dass trotz der Schutzcharta Straßenkinder nicht zur Schule gehen könnten und wenig Chancen auf eine Ausbildung hätten - auch in Deutschland. Warum waren die Harburger eigentlich einen Tag zu früh auf der Straße? Schirmherr der Aktion in diesem Jahr ist der TV-Moderator und Comedian Oliver Welke - und der hatte nur am Donnerstag Zeit für eine Pressekonferenz. So wurde das Humboldt-Gymnasium gebeten, einen Tag früher auf Hamburgs Einkaufsmeile loszuziehen - und kam exklusiv bei Sat.1 ins Fernsehen.

Donnerstag, kurz nach 10 Uhr auf der Mönckebergstraße: Für die 25 Harburger Gymnasiasten beginnt das Leben als Straßenkind. Sie spielen Gitarre, singen und verkaufen selbst gebackene Kekse vor den Geschäften. Im Religionsunterricht haben sich die Kinder mit dem Leben eines Mädchens in Afghanistan beschäftigt. Im Kunstunterricht haben sie sogar den Ernstfall geprobt: Lehrerin Anke Hoyer (41) spielte einen widerborstigen alten Mann und beschimpfte die kleinen "Bettler" - ihre Schüler sollten lernen darauf zu reagieren.

Die neun bis elf Jahre alten Schüler lernen schnell ein Schicksal von Straßenkindern kennen: Meist nämlich werden sie ignoriert. "Manchmal bin ich echt wütend", sagt Bastian (10), "weil die Leute einfach weitergehen und nicht einmal antworten." Auch Julia bemerkt, wie schwer es ist, ein paar Euro auf der Straße zusammenzukratzen: "Die meisten sagen, sie müssten zur Arbeit."

Das hat Hamburg lange nicht gesehen: Bastian und sein Freund Julian (10) verrichten niederste Arbeit auf dem Prachtboulevard und putzen Schuhe. Schuhcreme und Bürsten haben sie direkt vor den riesigen Schaufenstern eines bekannten Schuhhauses ausgebreitet.

Wer spendet, verzichtet meist auf den Lederglanz - offenbar sind kniende Kinder den Hamburgern peinlich. Die Harburger Gymnasiasten spielen ihre Rolle als Straßenkinder mit Bravour: Nach zwei Stunden haben sie 458,98 Euro und einen Vierteldollar (!) für Terre des Hommes in den Spendendosen. "Das finde ich unheimlich viel", ist Lehrerin Anke Hoyer überrascht. Nächste Woche schreiben die Schüler ihren Erfahrungsbericht an die Kinderschutzorganisation. "Einen Tag kann das ja Spaß machen", sagt Melisa nach zwei Stunden anstrengender Straßenarbeit. "Aber das ganze Leben lang ist das nicht schön."