Ein Jahr lang bietet die Dachmansarde der Stipendiatin Tomoko Inagaki künstlerischen Freiraum. Sie fühlt sich in Harburg wie “ein Alien“.

Harburg. Vor 15 Uhr ginge es nicht so gut, hatte es in der Mail noch geheißen. Jetzt, im Mayrschen Haus in der Lämmertwiete, erfahre ich von Tomoko Inagaki, dass sie gerade vom Deutschkurs kommt. Am Goethe-Institut. Wir zwei, unter den spitzen Dachgiebeln des Ateliers im Mayrschen Haus, sprechen deswegen vorerst lieber Englisch. Was macht Tomoko Inagaki, geboren in Osaka, eigentlich hier in Harburg? Tomoko ist die aktuelle Stipendiatin des Vereins "Künstler zu Gast in Harburg" und darf im niedlichen Atelier in der Lämmertwiete wohnen und arbeiten. Direkt unter dem Dach liegt ihr Atelier: weiße spitz zulaufende Wände, Dachbalken aus hellem Holz und das Tollste: Fenster in der Decke, durch die manchmal die Sonne blinzelt, auf die jetzt aber gerade der Regen trommelt. Der einfache Boden trägt Farbspuren - wahrscheinlich von den Vorgängern, und zwei große Arbeitstische erwarteten die Stipendiatin bei ihrer Ankunft. Von hier aus kann Tomoko, die im Frühjahr nach Harburg kam, an ihrem Laptop sitzend durch das große Fenster direkt in die Lämmertwiete hinunterschauen: Auf die Gäste, die im Café an der Ecke Kaffee trinken.

Wie fühlt sich Tomoko, die vorher in Osaka und dann in London gelebt und studiert hat, eigentlich in dieser Idylle? "Ein bisschen wie ein Exot, ein Alien", grinst Tomoko. Harburg sei zwar "schon irgendwie multikulturell", aber London eben viel stärker "gemixt": Hier in der Lämmertwiete habe sie das Gefühl, die einzige Asiatin unter lauter Deutschen zu sein. Und ein bisschen "alienhaft", ein bisschen wie in einem Raumschiff mutet es schon an, wenn die zierliche Künstlerin hinter ihrem Schreibtisch vom Raum förmlich verschluckt wird - denn der fast unmöblierte Raum ist riesengroß. Tomoko zeigt auf feine Skizzen-Blätter, die nebeneinander an die Wand gepinnt sind. Ein Storyboard, für ihr neues Video, das sie in Harburg bereits abgedreht hat. Mit einer Japanerin in der Rolle der Fremden in Deutschland und mit einer Deutschen. Tomoko interessiert sich für Menschen in ihrer Verschiedenheit, vielleicht auch in ihrer Fremdheit und für das große Thema Kommunikation. Kommunikation als Verbindung, die mal gelingt, aber auch unterbrochen, also auch "interrupted" sein kann, wie Tomoko hinter ihrem fransigen Pony hervorgrinst. Tomoko setzt das dann in Performances und Installationen um. Das neue Video wird sie vielleicht in einer Rauminstallation aus spinnwebenartigen Perlen präsentieren - denn einmal scheint sich die Japanerin im Video mit einer Kette aus Perlen zu strangulieren. "Scheint" - denn Realität und Fantasie, Gesehenes und Gedachtes durchwirken sich bei Tomoko gerne, genau wie Raum, Video und Sound immer erst die gedankliche Synthese ihrer Kunstwerke ergeben, manchmal eine widersprüchliche.

An Tomokos silbernem Notebook schauen wir uns erst einmal ein paar ihrer anspruchsvollen und von komplexen Gedanken getragenen Arbeiten an. Ein bisschen beginne ich zu verstehen und erkundige mich, ob ich richtig liege. Tomoko, die in einem seidenen Kleid mit Strickjacke darüber ein bisschen wie eine zarte Prinzessin anmutet, bejaht. Hoffentlich nicht aus japanischer Höflichkeit. In einem jüngeren Video saugt zum Beispiel eine Frau mit einem Staubsauger einen Wald voller Blätter, später versucht sie einen Strand mit Unmengen von Sand weg zu saugen. Quälende Monotonie und Aussichtslosigkeit. Dazwischen geschnitten Bilder von seltsamen Tieren in einer surrealen Galerieumgebung. Tomoko will spürbar machen, dass "wir immer verbunden mit anderen Menschen sind, eine Einheit." In einer Welt, die sich wandelt, "bringt es nichts, sich allein auf sich selbst zu konzentrieren", kommentiert Tomoko. Sie findet: "Man sollte mehr an andere denken" - ein bisschen wie bei der Zen-Philosophie. Und tatsächlich, am Ende wird das trostlose Szenario à la Beckett von einer Art Utopie des friedlichen Zusammenseins überstrahlt.

Tomoko holt eine riesige Mappe mit Bildern ihrer Installationen hervor: Im Kunsthaus Hamburg hat Tomoko 2009 ihre Arbeit "The last dessert" vorgestellt. In der Videoinstallation scheinen sich ein Mann und eine Frau, die sich ständig Lippenstift aufträgt, zu küssen, bis der Lippenstift verschwunden ist. Als Rauminstallation baute Tomoko dazu eine lange Tafel mit den schönsten Torten und üppig farbigen Blumen auf. Doch nicht nur das Küssen, auch die Confiserie war mehr Schein als Sein: Durch Konservierungsstoffe war sie so haltbar, dass das Backwerk nur noch bedingt lecker war. Ein Statement zu Dingen, die verführerisch scheinen.

Tomoko möchte auf Dinge und auf Menschen aufmerksam machen, manchmal eben, indem sie Gegensätze in Installationen aufeinanderprallen lässt. In der Installation "Wood" baute Tomoko ausgerechnet aus komplett artifiziellen Kunstholzmöbeln einen Baum. Oder die Installation "Spring", in der sie Skulpturen aus Seife schuf und dazu einen Film laufen ließ, in dem diese in der Badewanne schmolzen. Ein Kommentar zur Ewigkeit in der Kunst? Im Mai wird die Stipendiatin, Jahrgang 1975, wieder ins Flugzeug steigen, um 14 Stunden später in ihrer Heimat Osaka anzukommen. Doch vorher wollen wir ihre Arbeiten im Harburger Kunstverein sehen: Im April 2010.