Der frühere Unilever-Mann Jens-Georg Sievertsen hat ein besonderes Archiv an Kunstwerken, um das ihn manch ein Museum beneiden würde.

Harburg. Die Tür öffnet sich. Der Mann, der in Heimfeld vor seine gepflegte Doppelhaushälfte tritt, besitzt sie alle: Jonathan Meese, Gerhart Richter, Stephan Balkenhol, Ben Vautier, Günther Uecker, Günter Weseler oder Pippilotti Rist. Zwar hängen ihre Bilder bei Jens-Georg Sievertsen nicht direkt an der Wand, dafür liegen die Kunststars ordentlich gestapelt in Kekskartons - stets fertig zum Herausziehen. Jeder Galerist rund um den Erdball würde bei diesen Weltklassekünstlern kribbelig. Sievertsen, im Wollstrickjackett und mit flotter Baskenmütze, brachte alle dazu, eine Blankopostkarte mit individuellem Gruß zurückzusenden: Ein Schnorrer? Nein, der ehemalige Unilever-Manager im Ruhestand ist seit Jahren Mail-Art-Sammler - was für manchen jedoch aufs Selbe hinausläuft.

Wenn Jens-Georg Sievertsen auf der gemusterten Wachstischdecke in seinem Keller sein "Kunstarchiv" ausbreitet, ist das wie ein wilder Ritt durch die Kunstgeschichte. Immer entdeckt man Neues, Überraschungen: "In Galerien zu gehen und Kunst einfach nur zu kaufen, ist mir viel zu langweilig", sagt der Kunstbegeisterte. Überall in den Regalen an der Wand stapeln sich Kunstbücher, die Wände sind mit gerahmten Grüßen von Beuys und Janssen dekoriert, mit denen Sievertsen Ende der 70er-Jahre oft diskutiert hat, und die ihm, wie er sagt, "mit ihrer Aura oft schlaflose Nächte bereitet haben. Beide haben sich totgelebt, jeder auf seine Weise".

Bei der "Mail Art" geht es aus Sievertsens Sicht nicht einfach nur ums Abstauben von Werken bekannter Künstler. Das Besondere ist vielmehr, dass das Ganze nicht so steril ist wie der Einkauf in einer Galerie: Es hat gewissermaßen "Geruch", "Patina" und an vielen Postkarten hängt eine kleine Geschichte. So wird der Besuch bei Sievertsen intensiv. Die Geschichten zu seinen Mail-Art-Künstlern sprudeln aus ihm heraus, gedanklich springen wir von einem Schwergewicht der Kunst zum nächsten.

Auf dem Tisch im Hobbykeller liegen inzwischen wild durcheinander gewürfelt die Sterne der Gegenwartskunst: Ein Gruß von dem exzentrischen Professor Bazon Brock liegt neben einer blutroten wilden Message von dem anarchischen Jonathan Meese, der am liebsten die "Herrschaft der Kunst" ausrufen würde. Daneben ein witziger Spruch der Videokünstlerin Pipilotti Rist, eine Sonne von Daniel Richter und flüchtig hingeworfene Kreuze von Gerhard Richter. Witzig ist, wie unterschiedlich die Menschen auf das Anliegen des Mail-Art Sammlers reagieren: Sievertsen geht immer gleich vor: Das Objekt seiner Begierde bekommt einen Brief, der so beginnt: "Ich bin begeistert von Ihnen..." Beigelegt ist eine Blankopostkarte mit der Adresse des Sammlers, natürlich frankiert.

"Alles muss so einfach wie möglich sein." Mail-Art gehört nicht in einen Umschlag. Sie darf Regentropfen abbekommen oder Knicke haben und der Stempel ist ganz wichtig. Sievertsen ergatterte rund 300 Postkarten von 250 verschiedenen Künstlern. Wann eine Mail Art zurückkommt, weiß man nie: "Das kann Jahre dauern. Im Moment sind 250 noch in der Pipeline", wie sich der ehemalige Manager ausdrückt. Wie die Leute reagieren? Manche fühlen sich auf den Schlips getreten: "Was manche Leute für Vorstellungen haben." "Nein! A.S." oder "Schnorrer aller Länder vereinigt Euch" schrieben Künstler zurück. Andere sind ganz reizend und entschuldigen sich für die Verspätung.

Der Künstler Will Frenken nahm erst 15 Jahre später Kontakt zu Sievertsen auf - wahrscheinlich war ihm die Karte beim Aufräumen wieder zwischen die Finger geraten. Mail-Art sagt zusätzlich viel über den Kunstbetrieb aus. Alles sei viel kommerzieller geworden, was die Bereitschaft zur Mail-Art sinken lasse. "Motto: Wer was will, soll kaufen", weiß Sievertsen. Und noch etwas: Internationale Kunststars wie Jeff Koons oder Damian Hirst sind von ihren PR-Leuten so abgeschirmt, dass eine Karte sie nie erreicht - "da bringt es überhaupt nichts, was loszuschicken." Nehmen wir dagegen den deutschen Objektkünstler Günther Uecker, bekannt für seine Nagelbilder und von internationalem Rang: Er war persönlich zu erreichen und schrieb Sievertsen mehrfach mit tiefsinnigen Sprüchen zurück.

Sievertsen ist mittlerweile voll in Fahrt und ich "trunken vor Kunst". Schnell schauen wir uns die eigenen Werke des Sammlers an, der auch selber malt: und zwar erstaunlich talentiert. Eine Frage der Zeit, wann ein anderer Mail-Art Sammler ihm ein Bild abfragen wird. Allerdings nicht per E-Mail, denn damit hat es der Mail-Art-Sammler nun so gar nicht.