In 35 Meter Höhe pflücken Jörg Laternicht und Frank Meyer Saatgut für die Forstwirtschaft. Eine Arbeit für Schwindelfreie.

Brackel. Jörg Laternicht (39) hat es im Landkreis Harburg bis an die Spitze gebracht. In 35 Meter Höhe sitzt er in den Wipfeln der Douglasien. In einem Privatforst bei Brackel erntet er zurzeit die Zapfen ausgewählter Bäume. Die grünen noch geschlossenen Zapfen sind sozusagen das Gold der niedersächsischen Forstwirtschaft - sie enthalten Saatgut, mit denen später neue Bäume angepflanzt werden. Zapfenpflücker wie Jörg Laternicht aus Ahrensburg sind seltene Spezialisten - nur etwa 100 gibt es in Deutschland.

Etwa vier bis fünf Monate im Jahr sind schwankende Äste in 30 bis 40 Meter Höhe der Arbeitsplatz von Jörg Laternicht und seinem Kollegen Frank Meyer (38). Die Douglasien-Ernte dauert sechs Wochen. Weil es in diesem Jahr besonders warm war, öffnen sich die Zapfen früher als üblich. Deshalb stehen die Zapfenpflücker bei dieser Ernte unter Zeitdruck. Trotzdem haben die beiden ihre gefährliche Arbeit an einem Tag abgebrochen - wegen zu starken Windes. "Man hatte das Gefühl, die Spitze bricht ab", sagt Jörg Laternicht. Arbeiten wie bei schwerem Seegang.

Angst dürfe man bei diesem Job nicht haben, sagt der Zapfenpflücker. Respekt vor der Höhe solle man aber haben. Etwa zehn Minuten braucht Laternicht, um einen 30 Meter hohen Baum hochzuklettern. Dabei ist er mit zwei Seilen doppelt gesichert. "Bei einem Sturz würde ich zwei bis drei Meter fallen, bis das Seil mich fängt", so Laternicht, "der Adrenalinstoß wäre bestimmt sehr enorm." Seit zwölf Jahren klettert der 39-Jährige - einen Unfall habe er noch nie gehabt.

Das etwa 50 Meter lange Gummiseil zum Besteigen der Bäume schießt der Zapfenpflücker mit Hilfe eines Katapultes aus Fiberglas in die Höhe. Mit erstaunlicher Treffsicherheit - in der Regel braucht Laternicht höchstens drei Versuche auf dem richtigen Weg durch die Äste. Die anstrengende Kletterei ist notwendig. Zu warten, bis die Zapfen von allein auf den Boden fallen, geht nicht. Denn dann wären die Zapfen längst ausgereift und hätten ihre wertvollen Samen längst in alle Winde verstreut.

Zapfen werden nur in dafür genehmigten Waldbeständen geerntet, sagt der Bezirksförster Peter Mencke (48). Im Forst "Steinbeckswriete" bei Brackel stehen solche edlen Douglasien-Bestände, die für die Fortwirtschaft anerkannt sind. Erntebäume müssen mindestens 40 Jahre alt sein. Laternicht und sein Partner Meyer sind selbstständige Unternehmer und werden nach einem Kilopreis bezahlt. 40 bis 100 Kilo Zapfen erntet ein Pflücker von einer 30 Meter hohen Douglasie. Dafür ist er vier bis fünf Stunden im Baum beschäftigt.

Idyllisch ist der Arbeitsplatz der beiden Zapfenpflücker bei Brackel nicht gerade: Die ausgewählten Bäume liegen nahe der Autobahn. Der Lärm der vorbeirasenden Fahrzeuge ist so groß, dass sich die Kollegen nicht wie üblich durch Rufen von Baum zu Baum verständigen können. Deshalb nehmen sie ein Handy mit auf den Baum - immer "online", um kontrollieren zu können, dass kein Unfall im Wipfel passiert ist.

Jörg Laternicht ist von Beruf "Baumschuler", wie er sagt. Wenn er nicht auf schwankenden Ästen Zapfen im Akkord pflückt, ist die Baumpflege sein Job. Die Zusatzausbildung zum Kletterer dauert gerade einmal eine Woche. Eine weitere Woche dauert der Lehrgang für das, was ein Zapfenpflücker wissen sollte. Seine Kletterkünste übt das Wipfelstürmerduo bisweilen bei Touren an Wasserfällen und Bachbetten.

Die Arbeit im Baumwipfel ist schweißtreibend. Am Ende des Tages sei er "gesund müde", so Jörg Laternicht. "Man spürt seine Füße, wenn man den ganzen Tag auf dünnen Ästen steht." Am Abend wartet nicht etwa ein weiches Bett. Die beiden Zapfenpflücker aus Ahrensburg schlagen für ihren Job im Landkreis Harburg ein Waldcamp auf und schlafen in einem umgebauten Pferdewagen. Eine Dusche gibt's nicht - sie waschen sich mit Wasser aus dem Kanister. Damit sich das klebrige Harz auch von der Haut löst, schmieren sich die Zapfenpflücker vor jedem Klettergang mit Olivenöl ein. Über dem Gaskocher brutzelt das Abendessen - meist Nudelgerichte. "Danach sitzen wir noch zusammen und klönen", erzählt Frank Meyer. Um 21, spätestens um 22 Uhr, haben die harten Waldjungs dann Bettruhe.