Altes Spielzeug, die Geschichte der Genossenschaften oder des Vampirismus - Wissenschaftler des Freilichtmuseums haben ihre Steckenpferde.

Ehestorf. Dr. Nils Kagel ist den Geheimnissen des Alltags der Landbevölkerung vor 200 Jahren auf der Spur: Sein Job ist alles andere als alltäglich. Denn der Volkskundler sucht nach den Dingen, die nicht im Geschichtsbuch stehen. Zurzeit gibt die Kartoffel dem 38 Jahre alten Wissenschaftler Rätsel auf. Noch ist ungeklärt, wie die Knolle überhaupt aufs Land in die Lüneburger Heide gekommen ist.

Die weit verbreitete Meinung, der Preußenkönig Friedrich der Große habe den Siegeszug der Kartoffel befohlen, sei wissenschaftlich nicht zu halten. "Der Alte Fritz", sagt Nils Kagel, "hatte bei uns überhaupt nichts zu sagen." Bei uns, das war zu Beginn der Kartoffelära das Kurfürstentum Hannover. Die Bauern im Süden Hamburgs dienten also einem anderen Herrscher.

Der Hamburger Nils Kagel ist ein Spezialist für das Leben im 19. Jahrhundert im Landkreis Harburg. Er betreut wissenschaftlich das viel beachtete Projekt "Gelebte Geschichte" des Freilichtmuseums am Kiekeberg in Ehestorf. Dabei schlüpfen Laien unter wissenschaftlicher Anleitung in die Rollen von Bauern, Handwerkern, Häuslingen oder Mägden und rekonstruieren das Leben in der Lüneburger Heide von vor 200 Jahren. Im nächsten Jahr sollen die Lebensmittel unserer Vorfahren und deren Konservierung in den Mittelpunkt der "Gelebten Geschichte" rücken. Die Wissensvermittlung als Schauspiel für Museumsbesucher ist in der Fachwelt umstritten. Das Experiment könnte Falsches vermitteln, sagen Kritiker. Deshalb sind Details wie die Herkunft der Kartoffel für Nils Kagel so wichtig.

Viele Besucher wissen es gar nicht: Das Freilichtmuseum in Ehestorf beschäftigt gleich mehrere Wissenschaftler. Oberhalb des Museumsladens liegen die Büros der Forscher vom Kiekeberg. Hier, unter dem Dach des Verwaltungsgebäudes, sitzt auch Dr. Thomas Schürmann (46). Mit den "Deutschen Formen des Vampirs" und dem "Wandel der Tisch- und Begrüßungssitten" (so das Thema seiner Doktorarbeit) hat sich der Westfale während seines Studiums der Volkskunde und Geschichte beschäftigt. Heute betreut er zusammen mit Heike Duisberg (33), die für Sponsoring und Organisation zuständig ist, ein Millionenprojekt: Schürmann soll das geplante "Agrarium" am Kiekeberg mit Leben erfüllen, eine Art Science-Center für die Themen Landwirtschaft und Ernährung. Bis Mai 2012 muss die wissenschaftliche Ausstellung stehen - sonst verfallen die EU-Zuschüsse. "In unseren Magazinen haben wir schon dreimal so viele Ausstellungstücke wie wir benötigen", sagt Schürmann. "Geräte aus der Fischverarbeitung werden noch gesucht."

Zu den Wissenschaftlern am Kiekeberg zählt auch der "Herr der Archive" im Landkreis Harburg, der Historiker Dr. Martin Kleinfeld (50). Im Rahmen einer Kooperation des Freilichtmuseums mit der Stiftung Genossenschaftliches Archiv forscht Martin Kleinfeld zurzeit nach den längst verschwundenen Genossenschaften der Region aus der Zeit um 1900. "So etwas macht außer uns keiner", sagt der Experte für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 450 Genossenschaften haben damals existiert, mehr als 30 davon hat das Forschungsprojekt an den Tag gebracht. So gab es damals eine Aerogen-Genossenschaft (für Schweißer), eine Einkaufsgenossenschaft für Sattler und Tapezierer oder eine Busgenossenschaft, die eine Linie zwischen Lüneburg und Marschacht betrieb. Genossenschaften waren im 19. Jahrhundert die Antwort auf die "soziale Frage". Möglicherweise erleben sie heute eine Wiedergeburt: "Sie bekommen neuen Auftrieb", weiß Kleinfeld, "etwa im Pflegebereich oder auf dem Energiesektor." Auch der Kiekeberg-Chef forscht - auch wenn die Hauptaufgabe von Dr. Rolf Wiese (57) das Museumsmanagement ist. Dieses Berufsbild hat der Diplom-Kaufmann und Volkskundler (Doktorarbeit: alte Bauernhäuser im Landkreis Harburg) geprägt. An der Universität Hamburg ist der Winsener Ehrenprofessor für Museumsmanagement. Wieses Steckenpferd in der Forschung ist etwa ganz anderes: historisches Spielzeug.

Der Kiekeberg-Chef plant eine große Sonderausstellung am Freilichtmuseum zum Thema "Kindheit". "Ich werde auch irgendwann mal das Thema der elektronischen Spiele aufgreifen." Bereits in diesem Jahr untersucht das Museum am Kiekeberg die etwa 230 Spielplätze im Landkreis Harburg streng wissenschaftlich. Die Doktorandin Darijana Hahn erforscht die Geschichte: Wann überhaupt kamen die ersten Spielplätze auf? Wie waren sie ausgestattet? Die Erkenntnisse sind der VW-Stiftung eine Förderung wert.