Jahresabschlüsse, Prüfungs- und Geschäftsberichte der vergangenen 120 Jahre - im genossenschaftlichen Archiv in Hanstedt sind sie nachzulesen.

Hanstedt. Ein Pastor als Bankmanager? Was heute kaum vorstellbar erscheint, war Ende des 19. Jahrhunderts in Egestorf Realität. Dort gründete der vor allem als Naturschützer bekannt gewordene "Heidepastor" Wilhelm Bode im Jahr 1888 eine genossenschaftliche Spar- und Darlehenskasse. Nicht eine hohe Rendite war sein Ziel, sondern die Entwicklung der Heidedörfer. Die Landbevölkerung sollte die Möglichkeit erhalten, einerseits ihr Erspartes gewinnbringend anzulegen und andererseits kleine Kredite aufzunehmen, um Investitionen zu tätigen.

Das Beispiel aus Egestorf machte Schule, und bis zum Jahr 1920 waren in der näheren Umgebung ein gutes Dutzend Spar- und Darlehnskassen entstanden. Noch heute versteht sich die Volksbank Nordheide, die aus der schrittweisen Fusion örtlicher Genossenschaftsbanken hervorgegangen ist, als Regionalbank: "Nach wie vor bieten wir Beratung vor Ort, günstige Kredite und sichere Geldanlagen - auch bei kleinen Beträgen", hebt Vorstandsmitglied Cord Hasselmann hervor.

Die Geschichte der Bank ist im Genossenschaftlichen Archiv in Hanstedt genauestens dokumentiert. Hier finden sich, sorgfältig geordnet und katalogisiert, Jahresabschlüsse, Prüfungs- und Geschäftsberichte der vergangenen 120 Jahre. Begründer des Archivs ist der ehemalige Bankvorstand Dr. Rolf Lüer. Er studierte nach seiner Pensionierung Geschichte und promovierte über das genossenschaftliche Bankwesen im ehemaligen Kreis Winsen. 1998 wurde das Archiv der Öffentlichkeit vorgestellt, 2002 entstand die von den Volksbanken getragene "Stiftung Genossenschaftliches Archiv".

Ursprünglich als Dokumentensammlung der Volksbank angelegt, beherbergt das Archiv heute Material von mehr als 180 Genossenschaften aus den Landkreisen Harburg, Lüneburg und Soltau-Fallingbostel. Die Dokumente belegen, wie schnell sich die Genossenschaftsidee in der Region ausbreitete und als eine Antwort auf die "soziale Frage" von der Bevölkerung aufgenommen wurde. Nach dem Motto "Einer für alle, alle für einen" versprach der Zusammenschluss in Genossenschaften Sicherheit und Wohlstand. So entstanden um die Jahrhundertwende neben den Kreditgenossenschaften zahlreiche Bezugs- und Absatzgenossenschaften, Molkereigenossenschaften, Wasserleitungsgenossenschaften, Obstgenossenschaften und andere genossenschaftliche Betriebe, die zum Teil noch heute existieren. Der Bestand des Archivs wird durch Funde in Kellern und auf Dachböden ständig erweitert, berichtet Joachim Matz von der Volksbank Nordheide. Er ist Vorstandsmitglied der Stiftung und arbeitet zweimal wöchentlich als Archivar in Hanstedt. Matz zufolge ist das Archiv in seiner Art in Deutschland einmalig. "Sogar aus Japan, wo das Genossenschaftswesen in der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt, sind schon Forscher angereist, um die Dokumente zu durchforsten", sagt er. Jeden Donnerstag oder nach Vereinbarung steht das Genossenschaftliche Archiv für Besucher offen. Zu sehen gibt es nicht nur alte Schriftstücke, sondern unter anderem auch den Schreibtisch Pastor Bodes, Rechenmaschinen, historische Fotografien und Werbeplakate. Zudem besitzt das Archiv eine Bibliothek zur Genossenschafts- und Regionalgeschichte. Die "Stiftung Genossenschaftliches Archiv" hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Genossenschaftswesen der Region umfassend zu dokumentieren und ein Stück Geschichte lebendig werden zu lassen. Doch gehe es dabei nicht nur um die Vergangenheit, betont Hasselmann, denn das Genossenschaftssystem sei keineswegs überholt. Er ist davon überzeugt, dass es gerade in Zeiten der Krise ein zukunftsfähiges Modell darstellt.