Abendblatt-Mitarbeiterin Rachel Wahba begleitete die Familie Novotny bei ihrer Reise nach Bila Zerkwa.

Bila Zerkwa

Nach dem Besuch in Slagoda, der Auffangstation für Straßenkinder in Bila Zerkwa, der 220 000 Einwohner Stadt 80 Kilometer südlich von Kiew, steht für die Novotnys fest: "Die Renovierung der zwei Räume, die dringend als Schlafsäle gebraucht werden, wird das erste Projekt der Stiftung im nächsten Jahr", sagt Peter Novotny, Vorstandsvorsitzender der Stiftung "Hof Schlüter". Peter und Helga Novotny bereisen die Stadt am Fluss Ros und besuchen die verschiedenen Institutionen, denen die Scharnebecker Stiftung humanitäre Hilfe leistet (wir berichteten). Zum ersten Mal begleitet André Novotny seine Eltern auf ihrer Tour, die sie jedes Jahr unternehmen, um zu kontrollieren, ob die Hilfsgüter aus Deutschland da ankommen, wo sie gebraucht werden und um sich die Sorgen der Menschen anzuhören. "Ich kannte all dies von Fotos, die meine Eltern mir gezeigt haben. Aber es ist erschreckend, das Elend und die Not mit eigenen Augen zu sehen", sagt André Novotny, der eines Tages den Stiftungsvorsitz von seinem Vater übernehmen wird. André Novotny: "Bei uns zu Hause ist das kaum zu vermitteln, unter welchen Umständen die Menschen hier leben."

Nächste Station auf der Rundreise durch die von sozialistischen Plattenbauten geprägte Stadt Bila Zerkwa ist das "Krankenhaus Nummer zwei". Hierher liefert die Stiftung medizinische Geräte, Apparate, Bettwäsche, Krankenhausbetten und Mobiliar. Die Spenden kommen meist aus Krankenhäusern und Arztpraxen in Deutschland, in denen alte, noch funktionstüchtige Geräte durch neue ersetzt werden. Die letzten staatlichen Gerätezuweisungen erhielten die Kliniken in Bila Zerkwa im Jahre 1945. Der Besuch aus Deutschland wird vom Leiter "der medizinischen Behörde in Bila Zerkwa" und somit Chef aller Krankenhäuser der Stadt, Anatoli Rokov, erwartet. Die Stiftung will die Flure der orthopädischen Abteilung renovieren lassen. Die Flure haben es bitter nötig. Der alte Linoleum-Fußboden wellt sich und ist stellenweise völlig zerrissen. Rokov begrüßt den Besuch und bedankt sich für die gerade aus Deutschland gelieferte Bettwäsche: "Die Zusammenarbeit mit Ihnen ist für unsere Krankenhäuser wirklich sehr wichtig. Und ich hoffe, dass wir auch in Zukunft auf Ihre Hilfe rechnen können."

Hilfe vom Staat kann Rokov nicht erwarten. 455 Betten hat das "Krankenhaus Nummer zwei", wie die graue Plattenbau-Burg, so auch der Name ein Relikt aus Sowjetzeiten. Auch wenn ihm seine Rolle als Bittsteller vor den deutschen Gästen offensichtlich unbehaglich ist, rückt Rokov ziemlich schnell damit heraus, wo ihn der Schuh drückt: "Wir brauchen ganz dringend Einmal-Windeln für Erwachsene und Plastikbeutel für künstliche Darmausgänge. Es gibt diese Plastikbeutel zwar in den Apotheken, sie sind aber zu teuer für die Menschen. Die meisten Patienten können sie sich nicht leisten." Das Gesundheitssystem der Ukraine liegt am Boden. Das Gesetz aus sowjetischen Zeiten garantiert zwar auf dem Papier jedem Bürger eine kostenlose Behandlung, aber eben nur auf dem Papier. Der Kapitalismus hat die Ukraine eingeholt. Die alten Gesetze sind geblieben, aber nicht mal das Papier wert, auf dem sie stehen. "Wer krank wird in der Ukraine, muss alles selbst bezahlen, die Operation, die Medikamente, das Essen im Krankenhaus. Und wer das Geld nicht hat, der hat, wie so oft in der Ukraine, eben Pech", so Rokov.

Alle vier Krankenhäuser in Bila Zerkwa, dazu gehört auch die Geburtsklinik, bekommen vom Staat ein jährliches Budget von rund 72 Millionen Griwna. Das entspricht umgerechnet rund 7,2 Millionen Euro. Um ihren gesetzlichen Auftrag erfüllen zu können, bräuchten sie, so Rokov, mindestens 300 Millionen Griwna - eine utopische Summe angesichts der maroden Staatsfinanzen. Von diesen 7,2 Millionen Euro muss Anatoli Rokov die Gehälter der Ärzte und Schwestern sowie die Unterhaltungskosten für alle drei Einrichtungen finanzieren. Und die Gehälter bewegen sich auf niedrigstem Niveau. Ein Chefarzt verdient im Monat umgerechnet 200 bis 250 Euro im Monat. Eine Krankenschwester verdient rund 80 Euro. Eine Packung Waschmittel kostet in der Ukraine inzwischen etwa acht Euro. Rokov: "Wir versuchen, so weit es irgendwie geht, auch die Menschen zu behandeln, die kein Geld haben. Denen, die Geld haben, berechnen wir etwas mehr, um die Kosten wenigstens zum Teil zu decken." Und die Aussichten sind dank der Wirtschaftskrise in diesem Jahr noch schlechter als in den Vorjahren. Für sein "Krankenhaus Nummer zwei" hat die Behörde Rokov in diesem Jahr 500 000 Griwna (knapp 50 000 Euro) in Aussicht gestellt. Das ukrainische Gesundheitssystem sei, so Rokov, sehr korrupt. Hier komme eben nicht alles Geld an, das die Regierung zahle.

Nikolai Iltschenko, stellvertretender Chefarzt des "Krankenhauses Nummer zwei" zeigt den Besuchern seine Operationssäle. Im klapprigen Fahrstuhl geht es in den Keller. Die Kellerräume, in denen hier Menschen operiert werden, würden in Deutschland glatt als Museum durchgehen. Iltschenko lacht. Man könnte glauben, das einzige, was den Ukrainern bleibt, ist ihr feiner Humor, den sie trotz der Trostlosigkeit im Alltag nicht verlieren. "Unser ältester OP-Tisch ist aus dem Jahr 1908, und er ist der beste, den wir haben", sagt der Chefarzt. Er und seine Kollegen sind Ärzte und Handwerker. Wie oft sie schon den uralten Tisch und all die anderen Geräte repariert hätten, kann er nicht zählen. Aber irgendwie kriegen sie die Dinge immer wieder zum Funktionieren. Nur wenn die Stiftung neue Röntgenapparate, EKG-Geräte oder Narkoseapparate aus Deutschland schickt, können die älteste Geräte entsorgt werden.

Die Novotnys versprechen Windeln, die dringend benötigten Plastikbeutel, 20 Pulsatoren für Infusionsbestecke und mehrere Elektrokardiographen (EKG), die auch in Rettungswagen einsetzbar sind, mit der nächsten Lkw-Lieferung nach Bila Zerkwa zu schicken.

Nächster Termin: Ira Nekrasova lebt mit ihrem Mann Sergei Nekrasov und den beiden Söhnen in einer Plattenbau-Wohnung in Bila Zerkwa. Die jungen Eltern sind verzweifelt. Ihr jüngster Sohn Artem, gerade ein Jahr alt, wurde mit sechs Monaten als Frühgeburt geboren. Das Kind hat cerebrale Lähmungen, zeigt keine Reflexe, kann nicht sitzen und muss künstlich ernährt werden. "Aber manchmal lacht er sogar. Wir wissen, er will leben", sagt die Mutter und nimmt den Kleinen auf den Arm, während Sergei Necrasov beschämt daneben steht. Ebenso wie Natascha Petrowna, Leiterin von Slagoda, und Anatoli Rokov, ist es auch ihm sichtlich unangenehm, die Deutschen um Hilfe bitten zu müssen. Aber auch ihm bleibt nichts anderes übrig. Die Ärzte können Artem nicht mehr helfen. Mit einem altertümlichen Apparat wird dem Kind der Schleim aus der Luftröhre abgesaugt. Wie lange das Gerät noch durchhält, wissen sie nicht. "Ein neuerer Apparat, vielleicht sogar tragbar, damit wir mir dem Kleinen auch mal nach draußen können, wäre schön", sagt Sergei Nekrasov. Sie brauchen für die künstliche Ernährung ihres Sohnes dringend große Einmal-Spritzen. "Es gibt sie in der Apotheke, aber sie sind einfach zu teuer für uns", sagt Ira Nekrasova, die sich Tag und Nacht um ihren Sohn kümmern muss und deswegen nicht arbeiten kann. Die Novotnys versprechen, der Familie zu helfen. Helga Novotny: "Um helfen zu können brauchen wir die Spendenbereitschaft der Menschen in Deutschland."

Die nächste Folge erscheint morgen.