Zehntausende ab 11 Uhr auf dem Rathausmarkt. Ein Höhepunkt war die Rede des Schriftstellers Ralph Giordano. Das Abendblatt dokumentiert sie.

Hamburg. Hamburg, Grindelallee, Oktober 1945 - eine Erinnerung:

Wenige Schritte vor mir geht ein hochgewachsener Mann mittleren Alters in Begleitung zweier Frauen, denen er plötzlich laut gestikulierend zuruft: "Die Juden, die Juden sind an allem schuld!"

Das bereut er allerdings schon in der nächsten Sekunde, denn ich schieße ihm von hinten mit meinen Schultern im Hechtsprung gegen die Kniekehlen, was ihn zu Boden wirft, und bearbeite den Kerl dort unten so lange mit Fäusten, Zähnen und Nägeln, bis er das Weite sucht.

Für mich, vor sechs Monaten hier in Hamburg befreit, war es ein epochales Ereignis, ein schlimmes Signal, die Geburtsstunde einer historischen Erkenntnis: Hitler, und was der Name symbolisiert, war zwar militärisch geschlagen, nicht aber auch schon geistig, oder besser: ungeistig.

+++ Der zweite Teil der Rede: Es lebe das nazifreie Deutschland! +++

Nur hätte das bis vor Kurzem niemand öffentlich zu bekunden gewagt. Der Vergeltungsschock, als Besiegte von den Siegern so behandelt zu werden, wie sie als Sieger die Besiegten behandelt hatten, der hatte also gerade mal ein halbes Jahr gedauert, vom Frühling bis zum Herbst 1945.

In dieser Frist sind mir nur Hitler-Gegner begegnet, Helden, die alle Juden versteckt haben wollten oder doch wenigstens Leute kannten, die welche versteckt hatten. So viele Juden, wie da versteckt worden sein sollten, hatte es gar nicht mehr gegeben. Welch eine Verhöhnung der Deutschen, die tatsächlich Leib und Leben riskiert hatten ... - ein schmähliches Schauspiel. Das schlechte Gewissen einer Nation, die sich bis auf eine tapfere Minderheit nur allzu tief mit dem mörderischen NS-Regime eingelassen hatte, hatte ihre kollektive Lüge gefunden.

Der "Führer" war tot, nicht aber das, was er in den Herzen und Köpfen angerichtet hatte. Nur allzu rasch kam der braune Adam wieder ans Tageslicht.

Und heute, 2012, 67 Jahre später? "Hamburg bekennt Farbe" - und das ist gut so. Ich habe aufgeatmet, als die Nachricht und die Einladung kamen. Aber vor welchem Hintergrund?

Da mordet sich, quasi spazierengehenderweise, eine jugendliche Nazi-Gang mit Hintermännern 13 Jahre lang quer durch Deutschland, ohne dass sie und ihr Netzwerk auffällig werden. Als die blutige Strecke und ihre Verzweigungen endlich entdeckt werden, fällt die Bundesrepublik aus allen Wolken ihrer unentschuldbaren Blindheit.

+++ Neonazi-Demo: Rassisten mit Kapuzenpulli +++

+++ Helmut Schmidt unterstützt "Hamburg bekennt Farbe" +++

+++ Wandsbeker gegen Aufmarsch von Neonazis +++

Und so tauchen denn ganz spontan zwei Fragen auf: "Wo waren, erstens, die sogenannten V-Leute, die nach höchstrichterlichem Spruch aus Karlsruhe doch herhalten müssen für die legale Weiterexistenz der NPD?" Und zweitens: "Was, wenn die Ermordeten nicht sogenannte ,kleine Leute' gewesen wären, dazu noch Menschen mit ,Migrationshintergrund', wie es heute so unschön heißt? Was, wenn die Opfer hochkarätige Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kirche gewesen wären?" Jeder weiß, wie eine ehrliche Antwort ausfallen würde.

Hier hat die Geschichte der bundesdeutschen Sicherheits- und Schutzorgane einen Tiefpunkt erreicht, eine neue Dimension beruflicher Nachlässigkeiten, und das an einigen Stellen bis an den Rand der Komplizenschaft.

Selten hat etwas heftiger den mir von den Nazis injizierten Fluchtinstinkt provoziert als die fast täglichen Enthüllungen über den NSU (Nationalsozialistischen Untergrund), die "Zwickauer Zelle" und ihr verstörendes Ambiente.

Wovor muss man sich mehr fürchten: vor einem Rechtsextremismus, der dabei ist, sich mitten unter uns wohnlich einzurichten? Oder vor der staatlichen Indifferenz ihm gegenüber? Was ist denn fehlgelaufen, dass wir heute auf die Frage: "Ist Hitler, und was der Name symbolisiert, wirklich geschlagen?", antworten müssen: "Militärisch ja, seit fast 70 Jahren. Aber geistig, oder besser ungeistig, immer noch nicht."

Was ist denn passiert, dass mehr als drei Menschenalter nach dem Untergang des "Dritten Reiches" der Todfeind von gestern wieder auftaucht? Und das in Gestalt nachgewachsener Schreckgespenster, von denen keines als Fremdenfeind und Antisemit geboren wurde, sondern im Laufe seines jungen Lebens erst dazu geworden ist? Und was steckt hinter der Bilanz von 20 000 rechtsextrem motivierten Anschlägen, die der Verfassungsschutz für 2011 ausgemacht hat?

Kann sich das Deutschland von heute vorstellen, dass in Überlebenden von damals nun alte Ängste hochkriechen, wenn sie die Nachrichten einschalten und dabei auf eine wahre Flut von einschlägigen Meldungen über die Aktivitäten der zeitgenössischen Variante des Nationalsozialismus stoßen, denn das ist die NPD?

Kann es sich ausmalen, wie denen zumute ist, die Auschwitz, Neuengamme, Babi Yar, Lidice oder Oradour nicht aus ihrer Erinnerung verbannen können? Sie sind doch geblieben, trotz allem, sind hiergeblieben, obwohl es in der Geschichte der Bundesrepublik wahrlich vieles gegeben hat, was sie hätte verjagen können.

Einer von ihnen war der jüngst verstorbene Arno Lustiger, großer Freund und Chronist des jüdischen Widerstands. Und ein anderer von ihnen bin ich - der kraft seiner Biografie in ihrem Namen sprechen darf.

Nicht als jüdischer Racheengel oder verlängerter Arm des strafenden Jehova, sondern als einer, der sich sein ganzes Leben herumgeschlagen und herumgeplagt hat mit der Last, Deutscher zu sein - deutscher Jude oder jüdischer Deutscher - und der diese Last nicht abwerfen kann und nicht abwerfen will. Versöhnungsbereit gegenüber jedem, der sich ehrlich müht, auch gegenüber jedem ehemaligen Nazi, der das tut, doch absolut unversöhnlich gegenüber jeder Art von Unbelehrbarkeit.