In der Nacht zu Sonntag mussten alle 91 Mieter die Gebäude räumen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Betroffenen in ihre Wohnungen zurückkönnen. Ausschreitungen nach Demo auf der Schanze.

Hamburg. Auf einem Tisch haben Helfer des Deutschen Roten Kreuzes Brötchenhälften mit Käse und Jagdwurst aufgestellt, aus einem großen Alutopf gibt es Tee und Kaffee: Rund 50 meist ältere Männer und Frauen sitzen an den Tischen, unterhalten sich leise, warten, manche gehen nach draußen zum Rauchen. Es ist der Morgen, nachdem ihre Häuser an der Reeperbahn mitten in der Nacht evakuiert wurden, weil sich angeblich plötzlich Risse gezeigt hatten. Ein Gebäude soll sogar regelrecht gewackelt haben. Auch am Sonntagnachmittag ist für die Bewohner der maroden Esso-Häuser völlig unklar, wie es weitergeht – ob sie noch einmal in die Wohnungen zurückkehren können, ob sie Ersatzwohnungen erhalten oder weiter bleiben müssen. Die Nacht hatten viele auf eng gestellten Feldbetten hier in der Schule an der Königstraße verbracht, die kurzfristig zum Notquartier umfunktioniert worden war. „Ich weiß noch nicht, was ist, ob wir in ein Hotel kommen“, sagt etwa Rainer Franke, 52. In der Nacht zum Sonntag war er um eins von der Polizei am Sonnabend geweckt worden, weil die Gefahr eines Einsturzes bestand. Mit dem Bus ging es dann zur Schule. Viel geschlafen habe er hier aber nicht, sich nur ein, zwei Stunden auf die schmale Pritsche gelegt, sagt er. „Länger kann man so kaum schlafen.“ Seit neun Jahren schon wohnt Franke mitten auf dem Kiez in den gelblichen Hochhäusern. Immer mehr verfallen seien die Wohnungen, sagt er. „Doch damit jetzt, damit hat doch keiner gerechnet.“

Auch Bület Temiz, 35, und Sarah Herzig, 22, nicht. Das Paar aus Dillingen an der Donau wollte ein Hamburg-Wochenende verbringen, in den Clubs tanzen, sich in der Stadt an der Elbe amüsieren. Im Hotel Am Hafen im Gewerberiegel vor den Esso-Häusern hatten sie sich einquartiert, waren abends kurz über die Reeperbahn gebummelt – und standen dann fassungslos vor der Absperrung. Ohne Geld, ohne Koffer. Auch sie landeten im Notquartier und schliefen dort auf Feldbetten. Statt Caipirinha gab es dort Bohnensuppe, erzählen sie. Es war gegen 22.20 Uhr am Sonnabend, als über Notruf bei der Polizei Meldungen von erdbebenähnlichen Ereignissen in den Esso-Häusern eingegangen waren. Danach habe es Erschütterungen gegeben, das Gebäude schwankte. Selbst Möbel wurden verrückt. „Die Polizei hat das sehr ernst genommen und die Evakuierung veranlasst“, sagt Andy Grote (SPD), Chef des zuständigen Bezirksamts Mitte. Wohnung für Wohnung wurde in den beiden Gebäuden überprüft. 91 Mieter mussten raus. Dort, wo nicht geöffnet wurde, brachen Feuerwehrleute die Türen auf. 26-mal musste so vorgegangen werden. Auch der Gewerberiegel davor mit Hotel, Sexkino, Musikclubs und dem Panoptikum am Spielbudenplatz wurde evakuiert. „Das ging sehr schnell, auch weil das Konzert bei uns gerade beendet war“, sagt der Inhaber vom Club Molotow, Andi Schmidt. Dort hatte die Indie-Rockband Madsen gespielt.

Schmidt selbst erfuhr erst am Sonntagnachmittag, wie es vermutlich weitergeht. Der Auftritt von Madsen dürfte das Abschiedskonzert in der Location gewesen sein. Auch die Rückkehr der Mieter in die Wohnungen ist „sehr unwahrscheinlich“, sagt der Bezirksamtsleiter am Sonntagnachmittag auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Was für die Wohnungen gelte, gilt auch für den Gewerberiegel und die Tankstelle an der Taubenstraße. „Die Hinweise aus der letzten Nacht deuten sehr stark darauf hin, dass die Standsicherheit der Gebäude akut und konkret gefährdet ist“, so Grote. Zwar hätten Statiker und Mitarbeiter der Bauprüfabteilung keine neuen sichtbaren Hinweise wie neue Risse im Gebäude gefunden. Die Qualität der Schilderungen der beiden Anrufer und auch spätere Aussagen von weiteren Bewohnern hätten zu der Einschätzung geführt, dass der Gebäudekomplex nicht mehr standsicher ist. „Es besteht die Gefahr, dass jemand, der sich im Gebäude aufhält, Schaden an Leib und Leben nimmt“, so Grote. Bis Dienstag soll feststehen, wie es genau mit der Standsicherheit der Esso-Häuser aussieht.

Was das Ereignis ausgelöst hat, ist ebenfalls noch ungeklärt. Laut Bewohnern hätte es mehrere laute Musikereignisse in und um das Gebäude gegeben. „Es kann sein, dass das mit ursächlich war“, so Grote. Das Hauptaugenmerk des Bezirksamts liege jetzt bei den Mietern, nachdem die „Perspektive eines geordneten Auszugs“ durch die Ereignisse über den Haufen geworfen wurde. Man werde nach Kräften helfen, auch wenn es nicht sofort für jeden Einzelfall eine „passgenaue Lösung“ gibt.

Am späten Nachmittag dann durften die Mieter noch einmal in ihre Wohnungen, um wichtige Unterlagen, Medikamente oder Haustiere zu holen. Zuvor müssen sie sich in einem großen Zelt auf dem Weihnachtsmarkt versammeln. Nur begleitet können sie dann in die Häuser. Das soll, vor allem für die Gewerbetreibenden, auch in den kommenden Tagen möglich sein.

Die Evakuierung ist ein Höhepunkt im jahrelangen Streit um Erhalt und Abriss der in den 60er-Jahren gebauten Hochhäuser. Eine breite Aktivistenszene will den Abriss der Häuser verhindern, die zum Symbol im Kampf gegen die Verdrängung und teure Neubauten geworden sind. Die Bayerische Hausbau aus München hatte den Komplex samt der Esso-Tankstelle 2009 gekauft. Die Firma plant den Bau von 240 neuen Wohnungen, darunter auch Sozialwohnungen für die bisherigen Bewohner.

Die Häuser gelten seit Langem als marode: Die Tiefgarage ist bereits gesperrt. Ein Gutachten hatte eine schwere Schädigung des Stahlbetons festgestellt. Auch die Balkone der Wohnungen dürfen seit Wochen nicht mehr betreten werden, im Juni sollten die Häuser geräumt werden. Fazit des Gutachtens: „Der Zustand von nahezu 100 Prozent der Bauteile ist kritisch oder grenzwertig.“

Am Sonntagabend zogen etwa 750 Demonstranten durch das Viertel und protestierten gegen den Abriss der Häuser. Anschließend kam es zu Ausschreitungen im Schanzenviertel. Demonstranten bewarfen Streifenwagen mit Flaschen.