Salafisten mit Zuwachs in Deutschland. Der Verfassungsschutz stuft 170 Personen in Hamburg als „politische Salafisten“ ein. Islam-Prediger Pierre Vogel hielt eine Rede auf dem Hansaplatz.

Hamburg. Man muss wissen, wer Pierre Vogel in seinem früheren Leben war: Boxer. Deutscher Juniorenmeister im Halbschwergewicht. Er stand im Rampenlicht, er inszenierte sich für seine Gegner als unschlagbar. Im Ring war Pierre Vogel immer in Bewegung, er teilte aus mit Fäusten. Jetzt steht Vogel auf der Lkw-Bühne am Hansaplatz in St. Georg, in eine dicke Jacke gehüllt, sein kahl rasierter Kopf ist bedeckt von einer gehäkelten Kappe, der Bart wächst ihm zauselig aus seinem Kinn. Pierre Vogel, einer der bekanntesten Islamisten Deutschlands, ruft Suren aus dem Koran in das Mikrofon. „Wer Allah und dem Gesandten gehorcht, hat einen gewaltigen Gewinn. Denn dann wird Allah am jüngsten Tag zu dir sagen: Tritt ein in den ewigen Frieden“, sagt er.

300 Menschen stehen auf dem Hansaplatz, kaum einer von ihnen ist älter als 40 Jahre. Die meisten sind Jugendliche, tragen Jeans und Winterjacke, manche Käppi oder Mütze, viele filmen die Rede Vogels mit ihren Handys. Einige wenige Frauen, teilweise verschleiert, stehen etwas abseits. Vor allem vorne mischen sich unter die Menge junge Männer mit hochgekrempelten Hosen und Gewändern, auch mit Kappen und Bärten, wie Vogel sie trägt. Es ist die Kleidung der Salafisten. Manchmal, wenn Vogel im breiten rheinischen Dialekt den Propheten des Islam preist, dann rufen sie ihm zu: „Allahu akbar!“ – Gott ist groß. Pierre Vogel, der einstige Boxer, er teilt wieder aus. 2001 konvertierte er zum Islam, studierte den Koran in Saudi-Arabien, lebt heute auch in Ägypten. Sie nennen ihn Abu Hamza, den Vater der Krieger.

Im Weltbild der Salafisten gibt es nur einen Maßstab: den „Willen Allahs“. Ihrem Fundamentalismus ordnen sie alles andere unter. Sie teilen die Welt in „gut“ und „böse“, es ist kein Platz für Graustufen. Wer ein gutes Leben im Sinne der Salafisten führt, komme ins Paradies. Anderen drohe die Hölle.

Dabei war der Salafismus einst eine Reformbewegung, schreibt die Islamismus-Expertin Claudia Dantschke vom Zentrum Demokratische Kultur in Berlin. Gegen den Kolonialismus forderten Salafisten ein Zurück zum Ur-Islam wie zu Zeiten des Propheten Mohammed.

Doch radikale Selfmade-Prediger wie Vogel agitieren mit einer mittelalterlichen Rhetorik. In früheren Reden forderte er Steinigung von Frauen bei Ehebruch. Geht es nach ihm, soll Dieben die Hand abgehakt werden. Es sind bewusste Provokationen, die Vogel aussendet. „Als Ex-Boxer weiß er, wie man Auftritte spektakulär und emotional aufzieht“, sagt die promovierte Historikerin und Islamismus-Expertin beim Hamburger Landeskriminalamt, Irmgard Schrand. So habe Vogel auch zum Totengebet für den einstigen TopTerroristen Osama Bin Laden aufgerufen – eine bewusste Provokation und ein Tabubruch. „Dahinter steckt allerdings viel Kalkül statt eine tatsächliche Verehrung der Terroranschläge.“

Doch für Kritiker sind die Reden Vogels Wegbereiter einiger junger Muslime in einen „Heiligen Krieg“ gegen das demokratische Wertesystem des Westens. 5500 Salafisten registrierte der Inlandsgeheimdienst für dieses Jahr in Deutschland. Unter den weit mehr als vier Millionen Muslimen in Deutschland ist es eine winzige Gruppe – und auch innerhalb der salafistischen Szene gibt es von unpolitischen Puristen bis zu gewaltbereiten Hetzern viele verschiedene Strömungen.

Doch für die Behörden sind die Salafisten ein Risiko für die Sicherheit in Deutschland. Der Verfassungsschutz stuft in Hamburg nach Informationen des Abendblatts 170 Personen als „politische Salafisten“ ein. Sie agitieren offen gegen die Demokratie und die Grundordnung. Und wer die Demokratie mithilfe von Gewalt und Terror abschaffen will, gilt den Sicherheitsbehörden als Dschihadist, Heiliger Krieger.

Aktuell gelten 70 Salafisten in Hamburg für den Verfassungsschutz als Dschihadisten. 2012 waren es noch 40. Nun habe das Landesamt auch frühere Verdachtsfälle in die Statistik aufgenommen, heißt es. Bei einigen jungen Muslimen beobachte der Geheimdienst eine Radikalisierung, nicht nur in Hamburg, auch bundesweit. „Die Propaganda von Salafisten wie Pierre Vogel, Ibrahim Abou-Nagie oder dem mittlerweile inhaftierten Mohamed Mahmoud findet vor allem bei einigen jungen Muslimen in Großstädten wie Hamburg Zustimmung“, sagt Hamburgs stellvertretender Verfassungsschutz-Chef, Torsten Voß, dem Abendblatt.

Doch das Landesamt in Hamburg schreibt in seinem aktuellen Jahresbericht auch: „Politisch motivierte Straftaten in Hamburg, die eindeutig Islamisten zuzurechnen sind, wurden 2012 nicht festgestellt.“ Wobei noch ergänzt wird, dass bei Islamisten nicht die Anzahl der Fälle relevant sei, sondern die möglichen verheerenden Folgen nur eines geglückten Anschlags.

Der Salafismus ist die derzeit am schnellsten wachsende islamische Bewegung in Deutschland – vor allem ist er eine Jugendbewegung, und dann erst eine politische Gruppierung. Der Salafismus bietet Jugendlichen in einer komplexen Gesellschaft einfache Antworten an. „Für einige von ihnen füllt der Salafismus eine Identitätslücke, es ist ihre Abgrenzung gegen Autoritäten und die deutsche Mehrheitsgesellschaft“, sagt Schrand vom LKA.

Und einige wenige ziehen für ihre Ideen in den Krieg – nicht hier im Westen, sondern derzeit vor allem in den Kampf gegen den syrischen Herrscher Baschar al-Assad. Nun wurde nach Recherchen des NDR bekannt, dass ein 25 Jahre alter Hamburger im Kampf in Syrien ums Leben gekommen ist. Gökhan C. soll in Norddeutschland Kontakte zum dschihadistischen Milieu gehabt haben, auch zu „Millatu Ibrahim“ – eine salafistische Gruppe, die mittlerweile verboten ist. Auf Nachfrage des Abendblatts sind laut Verfassungsschutz seit 2012 rund 20 Salafisten aus Hamburg in den Krieg nach Syrien gereist sein.

Es sind die wenigen, aber stark radikalisierten, vor denen die Behörden warnen. Und es sind die Extremisten, gegen die sich Menschen wie Ahmed Yazici wehren: „Wir bekommen mit, dass immer mehr Jugendliche, aber auch muslimische und nicht muslimische Lehrer an uns herantreten, weil sie in der Schule oder in der Freizeit mit radikalen salafistischen Gruppen zu tun haben und mit ihrer Propaganda konfrontiert werden“, sagt er. Yazici ist stellvertretender Vorsitzender des Bündnisses der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland. Nun betreibe man in den Moscheen Aufklärung. „Radikale Gruppen haben in den Gemeinden Betätigungsverbot“, sagt Yazici.