Wo heute in Georgswerder Tangomusik erklingt, wurde bis 1979 Dioxin abgeladen – Hamburgs teuerster Umweltskandal. Der Dioxin-Fund löste Empörung aus.

Hamburg. Georgswerder, die Deponie. Einiges hatte ich ja erwartet. Das aber nun doch nicht: Tangomusik auf dem Plateau in 40 Meter Höhe. Nach mehr als einem Jahrzehnt stehe ich wieder an der Stelle, die mich jahrelang beschäftigt hatte: auf Deutschlands bekanntester Müllhalde.

Herausgeputzt haben sie den breit in der Landschaft liegenden Berg. Saftig grün die Oberfläche, weiß die Treppen und der Rundweg mit einem weiten Blick über Elbe, Autobahn und Stadt. Und in der Mitte ein Platz, auf dem sich Pärchen im Tangoschritt wiegen.

Das hatte etwas Irreales ...

Zumindest für mich, der sich hier schon seit Anfang der 70er-Jahre regelmäßig aufgehalten hatte. Damals war die Oberseite des Berges eine schmerzende Wunde.

Da gab es in den Hausmüll eingebaute Becken, sechs an der Zahl. Je 50 mal 80 Meter groß und vier Meter tief. In ihnen schwappten schlammig-ölige Flüssigkeiten, dazwischen Fässer. An anderen Stellen gab es Lager mit dreifach übereinandergestapelten 200-Liter-Fässern.

Befüllt wurden Becken und Berg zwischen 1967 und 1979. Und das offenbar von allen, die in Hamburgs Industrie Rang und Namen hatten. Vorneweg chemische Abfälle und solche aus der Mineralölbranche. Insgesamt schätzte man die festen und flüssigen Sonderabfälle später auf weit mehr als 200.000 Kubikmeter, davon mindestens 150.000 Kubikmeter in flüssiger Form. Andere Abfälle, Stäube, Schlämme, Pulver steckten in mehr als 100.000 Fässern zu je 200 Litern oder waren lose abgekippt. Was und wie viel genau auf der Deponie schlummerte, wusste damals und weiß wohl auch heute niemand ganz genau.

Zwar waren die Lagerbecken am Rand mit einer Tonschicht und am Boden mit PVC-Folie abgedichtet. Und sinnigerweise sollte darüber gekippter Hausmüll das Öl aufsaugen und binden. Eine nicht ungefährliche Arbeit. Im November 1974 versank dabei ein Mitarbeiter der Stadtreinigung mitsamt seiner Raupe in der Brühe und konnte erst fünf Tage später gefunden werden.

Zudem war die Methode mit dem aufsaugenden Hausmüll keineswegs erfolgreich. Denn schon vor der Schließung der Deponie 1979 sickerten Flüssigkeiten an den Flanken des Berges zu Tal. Die Behörden versicherten zwar, sie hätten alles im Griff. Tatsächlich aber lief das aus der Deponie austretende Dreckwasser jahrelang ungereinigt direkt in die Elbe.

Den großen Knall gab es dann am 9.Dezember 1983. An diesem Freitag meldete die Umweltbehörde, was Fachleute und Umweltschützer schon länger geahnt und befürchtet hatten: In der Deponie befindet sich auch das sogenannte Seveso-Dioxin (TCDD). Man habe es im Ölanteil einer Probe gefunden. TCDD gilt als so giftig, dass bereits ein Gramm 10 000 Ratten töten kann.

Der Fund löste Empörung aus. Bei den Anwohnern, die nur 50 Meter vom Deponiezaun entfernt ihre Kleingärten beackerten. Aber auch in der Politik.

Jetzt wurde erstmals grundsätzlich infrage gestellt, wie man bis dahin mit Chemie- und anderen brisanten Abfällen umgegangen war: Alles rauf auf die Deponie, bezahlt wurde nicht nach Giftigkeit, sondern allein nach der Menge. Und diese Praxis war keineswegs auf Georgwerder beschränkt. Brisanter Müll wurde in alle möglichen Wasserlöcher, Kuhlen und Gruben gekippt.

Den Leuten in Wilhelmsburg und Georgswerder, die sich von den Pfeffersäcken nördlich der Elbe schon immer als deren Mülleimer behandelt fühlten, platzte endgültig der Kragen. Sie hatten es satt, künftig überhaupt noch irgendwelchen Abfall in ihren Stadtteil kutschieren zu lassen.

Als besonderen Zynismus empfanden sie, dass der damals amtierende Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) seinen Wahlkreis in Wilhelmsburg hatte, seine Wohnung aber am feinen Leinpfad in Winterhude.

Hinzu kam, dass die Grünen 1982 erstmals in die Bürgerschaft einzogen und den in Umweltfragen allzu schläfrigen Alt-Parteien – allen voran die Dauer-Regenten von der SPD – im Nacken saßen. Das führte dann dazu – Ironie der Geschichte – dass die grüne Abgeordnete Thea Bock, die wenige Wochen zuvor bei einer Blockade der Chemie-Firma Boehringer von Polizisten weggetragen wurde, kurz darauf wieder erschien.

Diesmal allerdings als Mitglied des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Und diesmal hatte sie die Polizei auf ihrer Seite. Sie wolle Akten abholen, um aufzuklären, ob Boehringer in Georgswerder giftige Abfälle abgelagert habe, erklärte sie der verblüfften Geschäftsleitung. Wobei der Untersuchungsausschuss bereits der zweite in Sachen Georgswerder war. Der erste tagte zwischen 1971 und 1973.

Kurz darauf machte Boehringer zu. Umweltsenator Wolfgang Curilla (SPD) hatte den Betrieb der Anlage in Billbrook untersagt, weil sich in Abfällen hohe Konzentrationen an Seveso-Dioxin fanden. Klar wurde damals auch, dass Boehringer-Abfälle auf der Deponie Georgswerder gelandet waren. Vermutlich schon seit Ende der 60er-Jahre.

Den Hamburger Behörden sei seit mindestens 1979 bekannt gewesen, dass sowohl bei Boehringer als auch in Georgswerder Dioxin gefunden wurde, stellte der Untersuchungsausschuss Ende Oktober 1984 fest. Wobei der SPD-Abgeordnete Michael Sachs der Verwaltung drei Untugenden vorwarf: Nichtzuständigkeit, Inkompetenz und mangelndes Problembewusstsein.

Auf Seiten der CDU-Opposition hieß es, in den unteren Verwaltungsrängen hätten ja noch einigermaßen informierte Leute gesessen: „Aber darüber hinaus wurde das Thema offenbar überhaupt nicht debattiert.“ Darüber hinaus habe sich der Senat „nie aktiv dafür eingesetzt“, die Beschlüsse des ersten Untersuchungsausschusses umzusetzen.

Dass nicht nur Boehringer als Giftmüll-Lieferant galt, zeigte die Tatsache, dass sich 1986 auch andere Firmen mit umgerechnet fast zwölf Millionen Euro an der Sanierung der Deponie beteiligten. Neben Boehringer waren das unter anderen die BASF Lacke und Farben AG, die Firma W.E.H. Biesterfeld und die Hoechst AG. Das allermeiste ging jedoch zu Lasten öffentlicher Kassen.

Die Sanierungskosten insgesamt werden heute mit 245 Millionen Euro beziffert, der jährliche Unterhalt mit 600.000 Euro. Die Umgestaltung der Deponie für die Internationale Bauausstellung (IBA) kostete rund fünf Millionen Euro.

Im Innern des Berges brodelt es nach wie vor

Die Mülldeponie Georgswerder war am Ende der teuerste Umweltskandal, den Hamburg bisher erlebt hatte. Inzwischen ist die Deponie mit Kunststofffolie gegen Regenwassereintrag abgedeckt und die Oberfläche begrünt. Die aus dem Innern kommenden Flüssigkeiten werden aufgefangen und gereinigt.

Energieberg nennen sie die Deponie jetzt. Und in der Tat, die an seiner Südflanke installierten Solarzellen und das große Windrad in der Mitte liefern Strom, von dem etwa 4000 Haushalte profitieren können. Sonnenschein und Luftbewegung vorausgesetzt.

Im Innern des Berges aber brodelt es nach wie vor. Doch auch das hat ein Gutes: Man fängt die bei der Verrottung organischer Müllbestandteile entstehenden Gase auf und leitet sie auf die andere Seite der Autobahn in Europas größte Kupferhütte (Aurubis AG, früher Norddeutsche Affinerie) zur Unterstützung ihrer Schmelzöfen.

Seit Dezember 1986 geht das so. In den ersten Jahren waren es etwa drei Millionen Kubikmeter pro Jahr, aktuell sind es eine Million. Tendenz abnehmend. Aurubis zahlt dafür 80.000 Euro pro Jahr.

Dass es in der Deponie mit ihren insgesamt 14 Millionen Kubikmetern Müll aller Art warm ist, liegt auf der Hand. Und auch das wird genutzt: Dem Sickerwasser wird die Wärme entzogen, um damit die Betriebs- und Informationsräume zu beheizen.

Warme Füße macht das allerdings nicht. Dazu gehört dann schon auch ein flotter Tango-Schritt.

Ernst Gerhardt Scholz, 76, arbeitete von 1980 bis 2002 als landespolitischer Korrespondent