“Mehrheit für Vielfalt - Du hast die Wahl!“: Der Hamburg Pride 2013 präsentiert sich wie immer schrill. Aber der Christopher Street Day ist aus guten Gründen auch so politisch wie lange nicht mehr.

Fürs Straßenfest entlang der Binnenalster ist der Jungfernstieg bereits seit Donnerstagnacht gesperrt. Doch an der Langen Reihe in St. Georg, Schlagader der Hamburger Homosexuellenszene, weist 48 Stunden vor der Großen Parade noch nichts auf den unbestrittenen Höhepunkt des diesjährigen Christopher Street Days (CSD) hin, des 33. „Hamburg Pride“. Lediglich am legendären Café Gnosa hängt eine Regenbogenfahne schlaff im Wind, aber das tut sie eigentlich immer.

Spätestens am heutigen Sonnabend, ab 12 Uhr mittags, dürfte die Straße so bunt werden wie der Festumzug aus mehr als 40 homo-, bi-, trans- und intersexuellen Teilnehmergruppen, die sich zu Fuß, mit Autos und geschmückten Wagen für dreieinhalb durch die Innenstadt schieben werden. Der Veranstalter Hamburg Pride (pride – englisch – steht für den „Stolz“, die sexuelle Identität offen auszuleben) rechnet in diesem Jahr mit mehr als 300.000 Besuchern am Straßenrand, von denen wohl die Mehrheit heterosexuell gepolt ist, was der für gewöhnlich ausgelassenen Partystimmung allerdings keinen Abbruch tun wird, obwohl die Parade – so, wie der gesamte achttägige Hamburger Pride – in diesem Jahr politisch motiviert ist wie lange nicht mehr.

Das diesjährige Motto lautet „Mehrheit für Vielfalt: Du hast die Wahl!“ Damit lehnt es sich an die Bundestagswahl im September an. „Diese Wahl haben wir: Zum einen, wenn wir über die Zusammensetzung des nächsten Bundestags abstimmen. Wir haben sie aber auch im Alltag: wenn wir nicht den Mund halten, sondern bewusst und energisch für die Rechte von Minderheiten und damit für die Vielfalt der Gesellschaft eintreten“, sagt Marc-Pierre Hoeft, 29, Sprecher des Hamburg Pride e.V. Eines der erklärten Ziele sei es, den dritten Absatz des Artikels 3 des Grundgesetzes um den Begriff der „sexuellen Identität“ zu erweitern. Bisher heißt es darin nur: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ „Mit unserem Motto geben wir natürlich keine Wahlempfehlung ab. Wir möchten aber den Denkanstoß geben, dass die individuellen Interessen der norddeutschen Community ebenfalls wahlrelevant sind und sein sollten“, sagt Hoeft. Auch wenn inzwischen schwule Spitzenpolitiker wie Klaus Wowereit in Berlin oder Ole von Beust in Hamburg Landtagswahlen gewinnen können, auch wenn ein Guido Westerwelle den Staat im Ausland repräsentiert und einige angesehene und beliebte Fernsehmoderatoren und -moderatorinnen wie Alfred Biolek und Anne Will ihre Homosexualität offen ausleben, hinkt die vermeintlich liberale Bundesrepublik im internationalen Vergleich bei der Gleichstellung Homosexueller einigen anderen, sogar erzkatholischen Ländern wie Irland und Spanien und den teilweise extrem prüden USA hinterher, in denen Homosexuelle inzwischen ganz selbstverständlich heiraten und Kinder adoptieren dürfen.

Das Urteil des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts, das nun auch eingetragenen Lebenspartnerschaften das Ehegattensplitting nach langen politischen Querelen rückwirkend bis zum Jahr 2001 einräumt, täusche fast schon wieder darüber hinweg, „dass Homosexuelle in Deutschland noch immer keine Menschen erster Klasse sind“, sagt Hoeft. „Sie müssen alle Pflichten erfüllen, aber sie besitzen noch längst nicht alle Rechte. Wir werden zwar ‚verpartnert‘, aber wir dürfen noch immer nicht vorm Gesetz heiraten.“

In der Provinz geht es dagegen nach wie vor um weitaus grundsätzlichere Dinge. Da gehe es um Aufklärung, und zwar noch immer „ungefähr von der Steinzeit an“, erzählt der Medienberater Marcel Ivar Behrends, 27, der seit seinem 14. Lebensjahr weiß, dass er schwul ist. Ein Jugendlicher wie er, der im Moormerland bei Leer in Ostfriesland aufwächst, bewältigt dann für gewöhnlich einen Spießrutenlauf. „Auf dem Schulhof hieß es häufig ‚schwule Sau‘. Den Jungens habe ich angeboten, sie mit aufs Schulklo zu nehmen, damit sie lernen, wie es geht. Irgendwann war dann mal Ruhe.“ Aber nicht jeder hat ein solch freches, selbstbewusstes Mundwerk.

Inzwischen wohnt Behrends in Meppen, einer erzkatholischen Stadt mit viel plattem Land drum herum. Nachdem er bereits 2006 einen Stammtisch für Gleichgesinnte gegründet hatte, folgte Anfang Juli dieses Jahres ein eigener Pride-Verein (Landlust e.V.), der innerhalb von nur einem Monat 43 Mitglieder gewinnen konnte, sieben Neuanträge sind gerade noch anhängig. Zum Vergleich: Der Hamburger Pride e.V., seit Jahren der größte deutsche Verein, zählt zurzeit rund 350 Mitglieder. „Das zeigt, das wir hier auf dem Land echten Nachholbedarf haben. Institutionen wie die freiwilligen Feuerwehren oder Sportvereine, Zentren des gesellschaftlichen Dorflebens, sind für dieses Thema nicht sensibilisiert.“

Mancherorts, so Behrends, hieße es doch tatsächlich, Homosexualität sei biologisch abnormal – eine Krankheit. „Wir versuchen natürlich diejenigen zu unterstützen, die sich outen wollen. Und wir wollen an den Schulen Aufklärungsarbeit anbieten“, sagt Behrends. Fürs nächste Jahr planen die schwulen und lesbischen Emsländer bereits einen eigenen Pride: „Hinter uns liegen Jahre der Unterdrückung, die jetzt bunt und schrill explodieren!“

Aber wie schwul ist Hamburg? Diese Frage ist selbstverständlich als Provokation gemeint, denn richtigerweise müsste es wohl heißen: „Wie tolerant und weltoffen ist Hamburg wirklich?“ Vor vier Tagen zertrümmerten ein paar Pflastersteine die Fensterscheiben des Magnus-Hirschfeld-Centrums am Borgweg, Hamburgs lesbisch-schwules Zentrum für Beratung, Kommunikation, Kultur und Jugend. In derselben Nacht wurde eine Gruppe schwuler Männer im Stadtpark von Unbekannten mit Elektroschockern bedroht. Das könnte man – trotz aller Abscheulichkeit – durchaus als taugliche und zeitlich passende Indizien dafür werten, dass der Kampf für die 100-prozentige Gleichberechtigung auch in einer aufgeklärten Großstadt nach wie vor notwendig ist. Und angesichts der unheimlichen (Rück-)Entwicklung in einigen Staaten wie Russland, Ungarn, China und Indien vielleicht sogar notwendiger denn je.

Aus diesem Grund blickt Hamburg Pride e. V. beim CSD 2013 auch ganz bewusst übers „andere Ufer“ hinweg und stellt den Kampf für die Gleichstellung und Toleranz Homosexueller auf eine Stufe mit dem weltweiten Kampf für Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Demokratie. Bemerkenswert, weil auch für Heterosexuelle direkt spürbar, ist aber auch der Einsatz im Quartier, vor allem in einer solch vermeintlich freien Hansestadt wie Hamburg , wo der (historische) liberale Putz gerade ziemlich bröckelt. Denn so, wie Geschichtsforscher in den vergangenen Jahren nachgewiesen haben, dass Hamburg zwischen 1933 und 1945 selbstverständlich auch ein tiefbrauner Sumpf gewesen ist, arbeitet die Ausstellung „Liberales Hamburg – Homosexuellenverfolgung durch Polizei und Justiz nach 1945“ (22. Juli bis 1. September 2013 im Ziviljustizgebäude am Sievekingplatz) nun ein weiteres düsteres Kapitel hanseatischer Geschichte auf, beispielhaft übrigens für andere deutsche Großstädte, die noch nicht so weit sind. Schließlich endete die Verfolgung von Homosexuellen durch Polizei und Justiz auch nach 1945 nicht, denn der berüchtigte Paragraf 175 (der erst im Jahre 1994 nach zahlreichen Reformen ersatzlos gestrichen wurde) behielt sogar in seiner von den Nazis 1935 verschärften Form bis zum Ende der 1950er-Jahre seine Gültigkeit. Er war die Basis für die Homosexuellenverfolgung, die noch bis in die 1980er-Jahre anhielt, auch in Hamburg.

Jan Feddersen, einer der Mitinitiatoren des ersten Hamburger CSD im Jahre 1980, erinnert sich: „Man nahm allerdings, als wir uns dann schließlich zum Ort des Auftakts einfanden, kaum Notiz von uns. Auch nicht am Rande des Gänsemarkts und der Langen Reihe. Polizisten am Rande lachten, viele Passanten guckten irritiert. Schwules, Lesbisches – das war damals auch im linken und alternativen Spektrum so unbenennbar, so bizarr, so außerhalb gewöhnlicher Sprechfähigkeiten, dass man schon auf das Mittel der Provokation zurückgreifen musste.“

Und heute? Der Drehbuchautor Hubertus Borck hat gerade einen fünfwöchigen Schreibmarathon hinter sich und nun endlich einmal wieder Zeit, um, na klar, im Gnosa zu frühstücken. Rührei mit Schinken, dazu Latte macchiato. Er ist 46, doch schon mit 15 war ihm seine Homosexualität bewusst. Jetzt denkt Borck darüber nach, ob der CSD überhaupt noch eine politische Demonstration oder nur noch schrille Party sei. Das werde jedenfalls nach wie vor in der Gesellschaft diskutiert. „Ich bin jedoch der Meinung, dass es immer noch eine politische Demonstration ist, die sich mit dem, was wir erreicht haben, allerdings auch verändert hat. Sie ist mutiger und schriller als noch vor Jahren – aber das Schrille ist ja auch Teil unserer Kultur.“

Gerade dieses Schrille zieht Besucher an, genauer gesagt Touristen, vor allem schwule und lesbische Touristen. Für die Reisebranche kann daher im Grunde keine attraktive Metropole schwul genug sein. „Das Reiseverhalten von Schwulen und Lesben ist zu einem wichtigen Wirtschafts- und Imagefaktor im Tourismus worden“, sagt Sascha Albertsen von der Hamburg Tourismus GmbH, „sie gelten als stabile, kaufkraftstarke und markentreue Zielgruppe.“ Respekt und Glaubwürdigkeit spielten dabei eine große Rolle, etwa bei der Art, wie Hotels, Fluglinien und Agenturen werben, wie sie schwule und lesbische Mitarbeiter behandeln – und natürlich auch ihre homosexuellen Gäste. „Hamburg will sich national mit Berlin und Köln auf Augenhöhe etablieren“, sagt Albertsen und listet einige interessante Fakten auf: Danach verreisen Homosexuelle öfter und wohnen in luxuriöseren Hotels als Heterosexuelle; rund 55 Prozent der befragten Lesben und Schwulen gaben an, mindestens zweimal im Jahr zu verreisen (bei den Heterosexuellen liegt der Prozentsatz hier bei rund 30 Prozent); Städtereisen werden besonders gerne gebucht, und rund 60 Prozent der Homosexuellen gaben an, nicht nur mit ihrem Partner, sondern auch gerne mit Freunden zu verreisen. „Hamburg“, so Albertsen, „verfolgt ein sehr themenorientiertes Marketing und will die Erfolg versprechenden Themen zukünftig stärker für attraktive Zielgruppen ableiten.“

So gesehen ist auch die 33. Auflage des CSD ein Tourismusmagnet. Und vermutlich stimmt es: Nur die (fröhliche, laute, bunte) Übertreibung führt letztlich zur angestrebten Toleranz einer Minderheit, die mit mindestens vier Millionen Homosexuellen in Deutschland längst keine Minderheit mehr ist, die sich weder in einem „Milieu“ tummeln noch zu ihrem Schwul- oder Lesbischsein „bekennen muss“ wie zu einer Sünde oder einer Straftat – was Homosexualität nun wirklich nicht ist. Sondern ein Menschenrecht.