Die Hauptkirche St. Nikolai war der Stolz Hamburgs, bis das Gebäude 1943 zerstört wurde. Die Ruine soll für 11,5 Millionen Euro gesichert werden.

Hamburg. Ist es Gottesvertrauen, Ahnungslosigkeit oder sträfliche Ignoranz? Als sei nichts geschehen, findet am Himmelfahrtstag des Jahres 1842 in der Hauptkirche St. Nikolai ein Gottesdienst statt. Schon seit Stunden wütet an diesem 6. Mai vor 170 Jahren das Feuer, das kurz nach Mitternacht in dem Kaufmannshaus an der Deichstraße 42 ausgebrochen ist und später als der Große Brand in die Stadtgeschichte eingehen wird.

Doch in der Kirche erklingt die Orgel, die Gemeinde singt einen Choral, und der Pastor beginnt zu predigen, während die Flammen schon den Kirchturm erfasst haben. Dann auf einmal sind Schreie zu hören, Panik greift um sich, überstürzt verlassen die Menschen das brennende Gebäude. Für die Rettung der Kirchenschätze ist es bereits zu spät. Um 17.30 Uhr bricht die altehrwürdige Hauptkirche krachend in sich zusammen - damit hat Hamburg eines seiner ältesten Gebäude verloren.

Die Geschichte der alten Hauptkirche St. Nikolai ist eng mit der Entwicklung der gräflichen Neustadt verbunden, die sich im 12. Jahrhundert an der Alstermündung nach und nach ausbreitete. Es begann 1195 mit einem schlichten Feldsteinbau, der nicht zufällig dem heiligen Nikolaus geweiht wurde, denn der berühmte Bischof aus Myra war der Schutzheilige der Seefahrer und Händler, die damals in der Neustadt den Ton angaben.

+++ SPD sagt Sanierung des Mahnmals St. Nikolai zu +++

Im 13. und 14. Jahrhundert erbaute man die Pfarrkirche in gotischen Formen neu - als große Halle mit schmalen Seitenschiffen und einem Turm, dessen Unterbau Mitte des 14. Jahrhunderts vollendet war. 1402 erklangen hier zum ersten Mal Glocken, 1484 erhielt der Turm eine große Uhr, an der sich fortan nicht nur die Bewohner der Neustadt orientierten. Der Raum war nicht nüchtern und kahl, sondern reich geschmückt mit Kunstwerken. Außer dem Hochaltar gab es - wie im Mittelalter allgemein üblich - viele Nebenaltäre, in deren Schreinen sich Skulpturen mit der Darstellung von Heiligen und biblischen Szenen befanden. Da es in Hamburg keinen sogenannten Bildersturm gab, bei dem anderswo im Zuge der Reformation Bilder aus Kirchen entfernt wurden, blieben viele dieser Kunstwerke über die Reformationszeit hinaus erhalten. Erst im 19. Jahrhundert verkauften die Kirchengeschworenen einige mittelalterliche Ausstattungsstücke, darunter ein "großes verwittertes Bild des heiligen Christoph" nach England.

Schon unmittelbar nach dem Großen Brand begannen die Planungen für den Wiederaufbau. Wie der aussehen sollte, war zunächst niemandem klar. Sollte man die Kirche in der bisherigen Form wieder aufbauen oder die Ruine abtragen und ein komplett neues Bauwerk errichten? Ratsherren, Architekten und Pastoren redeten sich die Köpfe heiß, bis man sich für einen Neubau entschied. Erst am 1. Juni 1843, mehr als ein Jahr nach dem Brand, rücktenArbeiter an, um die verkohlten Mauern abzureißen, was mehr als sechs Monate dauerte. Inzwischen hatte die Technische Kommission, die den gesamten Wiederaufbau der Stadt plante und koordinierte, sich dazu entschlossen, die neue Kirche etwa 50 Meter südöstlich des ursprünglichen Standorts erbauen zu lassen.

Es sollte nicht nur ein großes, sondern auch ein großartiges Bauwerk werden; deshalb organisierte die eigens gegründete Kirchenbaukommission einen aufwendigen Architektenwettbewerb. Den 1. Preis gewann der aus Hamburg stammende Gottfried Semper, der damals in Dresden wirkte und durch sein dort erbautes Hoftheater, den Vorgänger der heutigen Semperoper, bereits berühmt war.

Viel hätte also nicht gefehlt und Hamburg hätte eine Semperkirche erhalten, einen Zentralbau mit Kuppel im Rundbogenstil, der sich gut in das architektonische Umfeld eingefügt hätte. Aber Sempers Entwurf passte nicht zum damaligen Zeitgeist, denn denPastoren und Kirchenältesten schwebte etwas ganz anderes vor. Sie lehnten die damals herrschende rationalistische Gottesdienstpraxis mit ihrer allzu einseitigen Betonung der Predigt ab und sehnten sich in ein Mittelalter zurück, das sie freilich romantisch verklärten. Deshalb entschieden sich die Anhänger der "Erweckungsbewegung" gegen Semper und für den Londoner Architekten John Gilbert Scott, der eine großartige mittelalterliche Kirche entworfen hatte. Der Aufwand war gewaltig, die Materialien mussten teilweise aus entfernten Gegenden geliefert werden. Am Hopfenmarkt richtete man eine riesige Baustelle ein. 30 Jahre dauerte es, bis von 1846 bis 1876 eine dreischiffige Basilika mit Querhaus und einem Westturm entstand, dessen durchbrochener Helm an den des Freiburger Münsters erinnerte.

147,3 Meter ragte der Turm in den Hamburger Himmel und war damit bei seiner Vollendung im Jahr 1877 das höchste Gebäude der Welt. Allerdings nur drei Jahre lang, bis zur Vollendung der Kathedrale im französischen Rouen, deren Turmspitze eine Höhe von 151,5 Metern erreicht.

Heute kann man sich kaum noch vorstellen, wie stark dieses neogotische Bauwerk das Stadtbild nicht nur mit seinem Turm, sondern auch mit dem hoch aufragenden Schiff beherrschte. Dass das Gebäude nicht nur mit seiner Architektur, sondern auch mit dem Baumaterial (Sandstein, Marmor, gelber Backstein) ein Fremdkörper im backsteingeprägten Hamburger Stadtbild sein musste, schien damals niemanden zu stören.

Deutschlandweit wurde die neue Hauptkirche ebenso bewundert wie die etwa zeitgleich realisierte Fertigstellung des Kölner Doms - beide Projekte markieren den Sieg der Neogotik, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts dieSakralarchitektur dominieren sollte.

Der Brite John Gilbert Scott (1811 bis 1878) war ein Star-Architekt, eine Art Norman Foster des 19. Jahrhunderts. Er baute weltweit, prägte aber vor allem die britische Architektur, etwa mit dem Bahnhof St. Pancras und dem Albert Memorial in London oder St. Mary's Cathedral in Edinburgh. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, das ausgerechnet das Werk eines bedeutenden britischen Architekten den Bombern der Royal Air Force den Weg wies: Im Juli 1943 diente der weithin sichtbare Turm den britischen Bomberpiloten als Orientierungspunkt für den Angriff der "Operation Gomorrha".

Der Turm selbst blieb zwar verschont, aber die Kirche wurde am 28. Juli 1943 schwer getroffen, das Dach stürzte ein, der Innenraum brannte aus, an Säulen und Wänden entstanden schwere Schäden. Da jede evangelische Kirche eine Gemeinde braucht, die umliegende Wohnbebauung jedoch nicht mehr existierte, entschloss man sich,St. Nikolai nach Harvestehude zu verlegen. 1962 wurde am Klosterstern ein Neubau nach einem Entwurf des Architekten Gerhard Langmaack geweiht.

Und die alte Hauptkirche St. Nikolai? Sie entfaltete auch als Ruine eine enorme städtebauliche Wirkung. Mehr noch, aufgrund ihrer so sichtbaren Verwundungen spricht sie die Menschen direkt an, eindringlich und mahnend.

Nach einer langen und widersprüchlichen Vorgeschichte konnte 1987 auf Initiative des Bauunternehmers Ivar Buterfas der Förderkreis "Rettet die Nikolaikirche" gegründet werden. Seither dient das großartige Bauwerk als Erinnerungsort an dieOpfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Thema der Ausstellung, die in der Krypta gezeigt und demnächst erneuert wird, sind nicht nur die Zerstörung Hamburgs im Feuersturm von 1943, sondern auch die Ursachen des Zweiten Weltkriegs und seine im Nationalsozialismus begründeten Vorgeschichte.St. Nikolai ist heute ein eindrucksvolles Mahnmal und zugleich ein Bauwerk, das zur Versöhnung aufruft und dessen bröckelnde Ruine nun saniert werden soll. Das hat der SPD-Senat zugesagt. Die Kosten werden auf 11,5 Millionen Euro geschätzt. Was genau für wie viel Geld saniert werden muss, wird im Detail erst Ende des Jahres feststehen.