An der Gewerbeschule in Hamm lernen 200 Schüler aus Krisen- und Kriegsgebieten. Sie haben schon den Bertini-Preis gewonnen.

Hamburg. An der Gewerbeschule 8 in Hamm, einem hellroten Schumacherbau an der Sorbenstraße, hat fast die Hälfte der Schüler ausländische Wurzeln, viele haben einen Flüchtlingshintergrund. Die meisten dieser Jugendlichen stammen aus Krisen- und Kriegsgebieten, manche mussten ohne ihre Eltern fliehen. Wenn sie auf diese Schule kommen, sind sie meist erst ein paar Wochen in Hamburg. Kaum einer hat je zuvor ein Wort Deutsch gesprochen. In der Gewerbeschule für Recycling- und Umwelttechnik, so die offizielle Bezeichnung der G8, absolvieren sie einen speziellen Ausbildungsgang, das Berufsvorbereitungsjahr für Migranten, sie lernen Deutsch und machen ihren Schulabschluss.

"Das größte Problem sind die Sprachschwierigkeiten", sagt Sünje Schubert, stellvertretende Schulleiterin. "Hinzu kommt, dass die Jugendlichen völlig unterschiedliche Hintergründe haben, sowohl in kultureller, religiöser als auch in ethnischer Hinsicht." Auch das Bildungsniveau ist bei den 200 Schülern extrem uneinheitlich, manche sind sogar Analphabeten. Der Umgang mit all diesen Schülern ist für die Berufsschullehrer eine tägliche Herausforderung.

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Wie alle anderen Gewerbeschulen steht auch die G8 vor einer Pensionierungswelle. Glücklicherweise gibt es Nachwuchs wie Marianne Marheineke. Die 35-Jährige hatte bereits zehn Jahre als Buchhändlerin gearbeitet und erst danach Politik und Publizistik studiert. Sie wollte Nahostkorrespondentin werden, hat sich dann aber doch für die Arbeit mit jungen Migranten entschlossen. Deshalb studiert sie jetzt Medientechnik und Deutsch aufs Berufsschullehramt. Seit 2010 gibt sie mit der "Literaturwerkstatt" sechsmonatige Neigungskurse an der Gewerbeschule.

Sie sind ein großer Erfolg: Die 24 Jugendlichen des zweiten Kursus gewannen für ihre Aufarbeitung des Nationalsozialismus auf Anhieb den Bertini-Preis, die Teilnehmer des dritten (diesmal waren es nur Mädchen) brachten gleich eine eigene Zeitschrift heraus. "Gazelle Young" heißt das Blatt, in Anlehnung an das multikulturelle Frauenmagazin "Gazelle" der Marokkanerin Sinep El Masrar aus Berlin. Um die Druckkosten einzuspielen, wird das Magazin der Schülerinnen für zwei Euro verkauft (erhältlich in der Buchhandlung Seitenweise am Hammer Steindamm 119) - die erste Auflage ist fast vergriffen. "Meine Überlegung war, die Schülerinnen mit niedrigschwelliger Redaktionsarbeit anzuspornen, sich intensiver mit Sprache zu beschäftigen", sagt Marianne Marheineke.

Das hat sie geschafft. Die 17 und 18 Jahre alten Schülerinnen des "Gazelle"-Kursus haben durch die Arbeit nicht nur Sprachkompetenz erlangt, wie nebenbei sind sie auch mit Themen in Berührung gekommen, über die in ihren Familien wenig oder gar nicht geredet wird: Unterdrückung von Frauen, Gewalt in der Familie oder Zwangsheirat. Sie haben Erfahrungen mit Layout, Druckverfahren und Bildbearbeitung gesammelt - und sie sind selbstbewusst geworden. Sie möchten sich an der Schule qualifizieren, um weiterzukommen, möglichst bis zum Abitur.

Noria kam 2010 von Afghanistan nach Hamburg. Ihr Vater war mit seiner Familie vor den Taliban geflohen - sie lebten zunächst in Pakistan, dann kehrte Noria mit ihrer Mutter und den Geschwistern in ihre Heimatstadt Ghazni zurück. Weil die Taliban ihr den Schulbesuch nicht erlaubten, flohen sie schließlich zum Vater nach Deutschland. Noria möchte Ärztin werden.

Claudia stammt aus Ostrumänien. Um der Armut zu entgehen, gingen ihre Eltern vor sechs Jahren nach Deutschland. Allein. Claudia lebte vier Jahre mit ihrer Schwester zusammen, dann reiste sie ihren Eltern hinterher. Sie möchte ein duales Studium im kaufmännischen Management machen.

Jennifer ist vor zwei Jahren aus Ghana gekommen. Seit 2008 hat sie zunächst in Italien gelebt - da war ihre Mutter bereits in Deutschland. Jennifer möchte eine Ausbildung als Krankenschwester machen, dann Abitur, danach Medizin studieren.

Emans Eltern sind vom Irak in den Iran geflohen. Ihr Vater ging nach Deutschland, die Mutter blieb mit den drei Kindern zurück. Vor eineinhalb Jahren holte der Vater die Familie nach.

Marija lebte bis vor zwei Jahren in Serbien. Ihr Vater arbeitet seit elf Jahren in Deutschland als Lkw-Fahrer. Weil sie in ihrer Heimat keine Chance auf eine gute Ausbildung hatte, verließ Marija ihre Mutter und ging nach Hamburg. Sie möchte Journalistin werden.

Darlin kommt aus Kuba. Ihre Mutter war nach Deutschland ausgewandert, als Darlin fünf Jahre alt war. Jetzt hat sie ihre Tochter zu sich geholt, damit sie hier eine gute Ausbildung bekommt. Darlin möchte eine Ausbildung zur Bürokauffrau machen.

Natali ist Ukrainerin. Ihre Mutter hat vor zwölf Jahren nach Deutschland geheiratet, also lebte Natali bis vor zwei Jahren bei ihrer Oma. Sie möchte Model werden oder Modedesignerin.

"Die ,Gazelle'-Mädchen haben Power", sagt Marianne Marheineke. "Sie haben die Unbeschwertheit ihrer Jugend verpasst und trotzdem schon lange für ihre Ideen durchgehalten - sie werden ihren Weg sicher zu Ende gehen."