Im 100 Jahre alten Stellinger Wahrzeichen lebt es sich traumhaft. Am kommenden Sonnabend kann sich jeder Hamburger davon überzeugen.

Hamburg. Was für Aussichten! Wer das erste Mal hier oben steht, kann sich nicht sattsehen. Die Wohnung von Gisela Steinhardt, 71, und Helmut Fröchling, 71, im 12. Stock garantiert einen weiten Rundumblick über die Stadt, der im Wortsinn atemberaubend ist. Am kommenden Sonnabend kann sich jeder Hamburger davon überzeugen. Denn erstmals nachdem der Stellinger Wasserturm als Letzter seiner Art in Hamburg 1974 seinen Betrieb eingestellt hat, ist er für die Öffentlichkeit wieder zugänglich. Und das hat seinen Grund.

Wenn ein Wahrzeichen 100 Jahre alt wird, ist das allemal ein Anlass zum Feiern. Also haben sich die Turmbewohner sowie die benachbarte Stadtteilschule Stellingen und die Grundschule Brehmweg zusammengetan, um gemeinsam den Geburtstag dieses markanten Bauwerks zu begehen. Mit Theater und Livemusik, Spiele-Parcours und Malwettbewerb, Filmen und - einer Turmbesteigung. Ein großes Stadtteil- und Kulturfest am Wasserturm mit Vereinen, Kirchengemeinden und freiwilliger Feuerwehr.

Gefeiert wird ein Gebäude, das einst ein Segen war für die Menschen in Stellingen und Langenfelde, Eidelstedt und Niendorf. "Die Wasserversorgung der vier Gemeinden sollte nach preußischen Vorstellungen gemeinsam erfolgen", sagt Helmut Fröchling, der mit Gisela Steinhardt im Jahr 2006 die 130 Quadratmeter große Eigentumswohnung im 12. Stock erworben hat. Fröchling ist Historiker, und er hat auch dank des Autors und "Freizeit-Wasserturmforschers" Jens U. Schmidt eine Menge Wissen über sein originelles Wohndomizil an der Högenstraße 114 angehäuft.

+++ Leben im Turm +++

+++ Stellingen +++

Erste Pläne für eine moderne Wasserversorgung gab es schon 1899. Stellingen erwartete Anfang des vorigen Jahrhunderts einen großen Zuwachs an Bewohnern und Gewerbebetrieben. "So begann die Suche nach Brunnen, die ausreichend Wasser lieferten, das außerdem von guter Qualität sein musste", sagt Fröchling. In 18 Meter Tiefe fand man zwei Brunnen, in einem 500 Kubikmeter großen Bassin wurde das Wasser gesammelt. "Mit dem markanten Wasserturm wollte die aufstrebende Gemeinde ein Wahrzeichen schaffen und es den Pfeffersäcken in Hamburg zeigen", sagt Fröchling. Der Kölner Architekt Max Stirn wurde 1909 mit der Planung beauftragt. Drei Jahre später wurde der 47,59 Meter hohe Wasserturm fertiggestellt, in dem sich in rund 30 Meter Höhe ein 600 Kubikmeter fassender eiserner Behälter befand. "Mit einem Dieselmotor angetriebene Pumpen förderten das Wasser aus der Tiefe dort hinauf", sagt Fröchling. Als eine Art Gegenbehälter und als Reserve.

700.000 Mark kostete das Wasserwerk, viel Geld für die damals 16 500 Einwohner der vier Gemeinden. "Das Rohrnetz schlug allein für Eidelstedt nochmals mit 125 000 Mark zu Buche", schreibt Jens U. Schmidt. "An den Gemeindegrenzen waren Wasserzähler angebracht, um zwischen den Gemeinden korrekt abrechnen zu können."

Im Stellinger Wahrzeichen lag der höchste Wasserstand bei 32,50 Metern. Oberhalb des riesigen Behälters war eine Aussichtsgalerie angelegt. "Und das ist heute unsere Wohnung", sagt Gisela Steinhardt.

Als der Turm nämlich zu zerfallen drohte, verkauften ihn die Wasserwerke 1979 für 300.000 Mark an einen Finanzmakler. Der baute auf dem Grundstück acht Stadthäuser und errichtete von dem Verkaufserlös im Turm per Bauherrenmodell elf Eigentumswohnungen plus Treppenhaus. Von dort gelangt jeder Bewohner per Fahrstuhl direkt in seine Wohnung.

Als Gisela Steinhardt und Helmut Fröchling vor sechs Jahren die Wohnung zum ersten Mal betraten, stand der italienische Vorbesitzer am gebogenen Küchentresen und rührte in einem Kochtopf. Von der zentralen offenen Küche gehen im Kreis die einzelnen Zimmer ab. "Es war Liebe auf den ersten Blick", sagen sie.

Im Schlafzimmer gehen drei Stufen zum Bett hinauf, im Badezimmer führen ebenfalls Stufen zur erhöhten Wanne. Von dort haben sie einen Blick auf das neue Eismeer bei Hagenbeck, beim Frühstück im Bett schauen sie bis zur Elbphilharmonie. Und vom Wohnzimmer können sie links den Hafen sehen und geradeaus bis nach Blankenese. Sie haben sämtliche Hauptkirchen im Blick und natürlich die anderen Wassertürme: in Lokstedt, beim UKE, das Planetarium, das Mövenpick-Hotel im Sternschanzenpark sowie die Türme in Rothenburgsort und Blankenese.

"Wenn die ,Queen Mary 2' den Hafen verlässt, dann sehen wir den beleuchteten Schornstein und die oberen drei Decks", sagt Helmut Fröchling. Wenn der Airbus Beluga über ihnen zum Landeanflug auf Finkenwerder ansetzt, können sie von ihrer Loggia aus beobachten, wie das Fahrwerk ausgefahren wird.

Wenn am Sonnabend der Turm von 14 Uhr an zur Besteigung freigegeben wird, bekommen die Menschen nach 220 Stufen im 13. Stockwerk einen Eindruck von dem, was Gisela Steinhardt und Helmut Fröchling jeden Tag genießen dürfen. Sie haben gedacht, dass der weite Blick vielleicht irgendwann seinen Zauber verliert. Tut er aber nicht. Zumindest noch nicht nach sechs Jahren. "Der Himmel sieht ständig anders aus. Und es ist ein faszinierendes Bild, wenn irgendwo plötzlich eine gewaltige Regenwand aufzieht", sagen sie. "Der Blick verbraucht sich einfach nicht."