Hamburgs Partnerstadt Marseille will den Sprung ins 21. Jahrhundert schaffen. Modernität hat ihren Preis: Gentrifizierung ruft Künstler und Kritiker auf den Plan. Ein Rundgang

Der Cours Julien ist dem Himmel ein Stückchen näher. Hoch über dem Marseiller Stadtviertel Noailles weitet sich die Straße zu einem Fußgängerareal. Junge Bäume säumen Wasserbecken und einen Spielplatz, Deko-waren im Orientlook und Kleider von örtlichen Modedesignern liegen in den Schaufenstern, eine Theaterfassade glitzert. In Cafés trinken Werbeleute und Rockmusiker, hochhackige Schönheiten und späte Hippies Pfefferminztee. Und abends zieht Partyvolk durch die Bars und Diskotheken.

Der Cours Julien ist hip. Studenten und Kreative haben Noailles für sich entdeckt. Mit der eingesessenen, maghrebinisch geprägten Bevölkerung haben die Neuankömmlinge kaum Berührungspunkte. Die Frauen in Kopftüchern und knöchellangen Gewändern sitzen nicht in den Cafés, sondern schieben ihre Kinder in ausgeleierten Buggys an den Hauswänden entlang. In den Seitenstraßen bröselt Putz von den Fassaden. Stofffetzen ersetzen Vorhänge, Gemüsereste und Kartons modern in den Rinnsteinen - nur wenige Schritte vom lässigen Treiben des Cours Julien. "Das ist ein falscher Charme", sagt der Schriftsteller Jean-Pierre Ostende. "Es gibt kein Zusammengehörigkeitsgefühl in diesem Viertel."

Schon immer sind in Marseille Orient und Okzident aufeinandergeprallt. Keine zehn Gehminuten vom wimmelnden Noailles schaukeln Segelyachten im Alten Hafen. Der ist Herz und historische Keimzelle der Stadt. Dort liegen die traditionellen Bouillabaisse-Restaurants, dort beginnt die Prachtstraße La Canebière. Vor den eleganten Fassaden breiten Straßenhändler aus Schwarzafrika ihre Schmuggelware aus, immer auf der Hut vor der Polizei, alte Frauen ziehen sich am Stock übers Pflaster. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich liegen selbst in der Innenstadt offen zutage.

Frankreichs älteste, zweitgrößte Stadt gilt als Hochburg der Kriminalität. Umgeben von Märchenstädten wie Aix-en-Provence oder Avignon, liegt sie abgeschottet wie eine Auster am Meer; vom sonnigen, weltweit vermarkteten Lavendelfeld-Image der Provence fällt nichts auf sie ab. Doch sie will weg von ihrem Schmuddelruf.

Marseille ringt darum, im 21. Jahrhundert anzukommen. Immerhin ist der Hochgeschwindigkeitszug TGV schon auf drei Stunden nach Paris herangerückt. 2013 wird Marseille Kulturhauptstadt Europas; bis dahin sollen Renommierprojekte wie das "Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeerraums" fertig sein: Das Institut wird seine Pforten in dem restaurierten Fort Saint Jean öffnen, das über der Einfahrt zum Alten Hafen thront.

Wie seine Schwesterstadt Hamburg ist Marseille mit seinen 850 000 Einwohnern vom Hafen und seiner Tradition geprägt, wie Hamburg stemmt es gerade ein städtebauliches Jahrhundertprojekt, "Euroméditerranée" genannt - und wie in Hamburg tragen die Veränderungen der Quartiere bisweilen Züge eines Verteilungskampfes, in dem freilich nicht alle Bevölkerungsgruppen die gleichen Chancen haben. Zornige Graffiti zum Thema Gentrifizierung auf den Hauswänden sprechen für sich.

"Die Bevölkerung ist von den Stadtentwicklungsprojekten häufig ausgeschlossen", sagt Jean-Pierre Ostende. Er hat in den 1990er-Jahren in einem der Gremien gesessen, die die Gründung von Euroméditerranée vorbereiteten. Die öffentlich finanzierte Projektgesellschaft residiert heute in einem edel restaurierten ehemaligen Lagerhaus am Hafen.

Im Infozentrum zeigt Anthony Abihssira, der Erscheinung nach Absolvent einer Elite-Uni, mit dem Laserzeiger auf ein zimmergroßes Modell. Es bildet das Gebiet zwischen dem Alten Hafen, dem Frachthafen und dem TGV-Bahnhof Saint-Charles ab, für das Euroméditerranée zuständig ist. Im Maschinengewehrpresto rattert der junge PR-Mann geschliffene Sätze herunter. Er spricht von Dynamisierung, von internationaler Ausstrahlung: "Marseille soll eine Drehscheibe des Mittelmeerraums werden und unter die 20 wichtigsten Städte Europas aufsteigen."

Ehrgeizige Ziele. Schließlich spielt Marseille, von dessen einstigem Reichtum als Handelsplatz die üppige Architektur noch zeugt, im Wirtschaftsleben der Region kaum mehr eine Rolle. Längst haben die Häfen von Genua und Barcelona die Nase vorn, nur noch ein Bruchteil des Containeraufkommens wird in Marseille abgewickelt.

Euroméditerranée ist das Gegenstück zur Hamburger HafenCity. Um Firmen anzusiedeln und Arbeitsplätze zu schaffen, will man bis 2020 über eine Million Quadratmeter Büro- und Gewerbeflächen bauen. Ein von der exzentrischen Architektin Zaha Hadid entworfener Büroturm mit 33 Stockwerken, das Flaggschiff des Projekts, reckt sich bereits in den Himmel. Neben den übrigen Bauten sieht er aus wie der Riese Gulliver im Zaubermantel.

Zudem sollen 18 000 neue Wohnungen entstehen und Tausende Altbauwohnungen saniert werden. 3827 Wohnungen seien schon gebaut und 3411 hergerichtet, verkündet die Website von Euroméditerranée. Die Zahl steht dort schon seit Monaten - und es fragt sich, für wen die Wohnungen sein sollen. "Für alle", sagt Anthony Abihssira. Oberstes Ziel sei eine ausgewogene soziale Mischung. Diese Mischung schreiben auch die verwirrend komplexen Regeln über den sozialen Wohnungsbau vor. Euroméditerranée kann also rechtlich gesehen gar nicht anders. "Es ist fast unmöglich, die Leute umzusiedeln", sagt Abihssira.

Praktisch aber ist es zumindest in der Rue de la République offenkundig im großen Stil gelungen, die überwiegend armen, maghrebinischen Bewohner loszuwerden. Der Vorzeige-Boulevard von Euroméditerranée verbindet den Alten Hafen mit dem Geschäftsviertel La Joliette: ein ganzer Straßenzug im einheitlichen Haussmann-Stil mit löwenkopfbewehrten Haustüren, französischen Balkons und frisch gesandstrahlten Fassaden. Doch kaum eine Wohnung wirkt belebt, viele scheinen leerzustehen. Andere gehören Parisern, die nur am Wochenende mit dem TGV herkommen. In den Erdgeschossen sitzen ein paar Banken, oft sind die Ladenfenster mit dem Werbeplakat einer Immobiliengruppe verklebt, Slogan: "Mein Leben ist in der Republik." Echtes Leben sieht anders aus. Einst berühmt für ihre Bars und Nachtklubs, ist die Straße schon am frühen Abend wie ausgestorben, nur die nagelneue Straßenbahn summt geradeaus.

An einem Eckhaus warnt ein verwittertes Bauschild: "Zutritt zur Baustelle für die Öffentlichkeit verboten." Allerdings ist seit einer Fassadenreinigung 2006 offenbar nichts geschehen, die Haustür ist mit einer Stahlkette verrammelt. Man erzählt sich abenteuerliche Geschichten vom Vorgehen der beteiligten Immobiliengesellschaften: Sie hätten die Häuser absichtlich verfallen oder gar von vorgeblichen Hausbesetzern unbewohnbar machen lassen.

Die Initiative "Un Centre-Ville Pour Tous" (ein Stadtzentrum für alle, kurz CVPT) hat Fälle dokumentiert, in denen Mitarbeiter der Immobiliengesellschaften den verbliebenen Mietern sogenannte Lösungen antrugen. Denjenigen, die sich darauf nicht einließen, drohten sie kurzerhand, während der Bauarbeiten würden leider die Treppen abgerissen und die Aufzüge entfernt. Hoch schlug damals die Welle der Empörung, die Presse stürzte sich auf den Fall. "Der Konflikt war so schön übersichtlich", sagt der mexikanische Stadtforscher David Mateos Escobar, der sich ehrenamtlich bei CVPT engagiert. "Die Interessen waren klar verteilt."

Doch auch in weniger prominenten Ecken sind derlei kalte Entmietungen an der Tagesordnung. Mateos Escobar zeigt auf ein fleckiges, schmales Haus im Viertel Chapitre, ein sogenanntes Hôtel meublé. Es gibt viele davon in Marseille. Mit Hotels haben sie freilich nichts zu tun, es sind Unterkünfte für die Allerärmsten. Viele der Bewohner sind ohne Papiere in Frankreich. Andere sind in den 60er-Jahren nach dem Algerienkrieg als Arbeiter hergekommen und in der Fremde alt geworden, arm, unverheiratet, fern der Familie.

Da hausen schon mal sechs Personen auf zwölf Quadratmetern. Oft lecken Wasserrohre, die Stromleitungen liegen offen, oder die Wohnungen sind nicht zu heizen. Doch manche Eigentümer ergreifen nicht einmal die allernotwendigsten Sicherungsmaßnahmen.

Schon 2008 hat der Marseiller Stadtrat beschlossen, für die alleinstehenden alten Arbeiter mehr Sozialwohnungen zu schaffen. Seinem Beschluss fügte er sogar Adressen bei. Doch geschehen sei so gut wie nichts, erregt sich Mateos Escobar. "Die Politik verfolgt oft die Linie: In zehn Jahren sind die Leute sowieso tot."

Die Öffentlichkeit hat sich dafür nicht weiter interessiert - anders als für die Fälle in der Rue de la République oder auch im Panier, dem ältesten Viertel der Stadt. Dort haben Künstler das Vorgehen der Stadt, der Eigentümer und Investoren in Filmen, Schriften und Performances angeprangert. "Das waren dankbare Objekte. Die Viertel sind so malerisch", sagt David Mateos Escobar. Er kritisiert allerdings auch: "Wer die Gentrifizierung künstlerisch verarbeitet, wirkt an ihr mit. Selbst wenn er das nicht will." Manche Künstler lehnen städtische Stipendien ab, um sich nicht zu korrumpieren.

In Hamburg haben sich seinerzeit Künstler unter der Überschrift "Not In Our Name, Marke Hamburg!" dagegen gewehrt, sich zu Vermarktungszwecken vereinnahmen zu lassen. Anders als die Armen sind die Künstler auch in Marseille erwünscht. Schließlich wertet ein Kulturleben eine Stadt auf, oder, wie es Anthony Abihssira von Euroméditerranée drechselt: "Die Vitalität des künstlerischen und kulturellen Sektors ist ein Motor für die Dynamik von Euroméditerranée."

Genau deshalb wird es in Marseille für die, die diesen Motor antreiben, immer schwerer, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Über das Viertel ist die Entwicklung, die Noailles bevorsteht, schon hinweggegangen. Nach wie vor haben die Gassen und geduckten Häuser den Charakter eines provenzalischen Dorfs. Doch die raffiniert-schlichten Restaurants, die geschmackvoll ausgestatteten Läden und die Maklerbüros machen deutlich, welche Klientel hier umworben wird.

Ein paar Schritte abseits der Touristenroute reißen Arbeiter eine alte Treppe ab. "Drei Apartmenthäuser mit Garage" verspricht ein Bauschild. Die Investoren nutzen jeden Zentimeter: Ein riesiger Betonriegel schiebt sich zwischen die Häuschen - als Bürgersteig bleibt gerade mal ein handtuchbreites Stück. Für Rollstühle und Kinderwagen wird es eng.