Der Autor Roger Willemsen erzählt, was ihn an die Enden der Welt getrieben hat. Er ist immer auf der Suche nach Bildern, nach Gefühlen.

Hamburg. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für diese Stadt leisten, in Hamburg als Vorbilder gelten. Folge 32: Roger Willemsen. Er bekam den roten Faden von Petra Fischbach, der Leiterin des Hospizes von Hamburg Leuchtfeuer.

Roger Willemsen ist ein großer Erzähler. Einer, der dafür sorgt, dass er viel und Ungewöhnliches erlebt, der sensibel und scharf beobachtet und so aus einer Überfülle selbst erlebter Begegnungen und Kuriositäten schöpft. Beim Schreiben, beim Reden - aber das ist bei ihm fast dasselbe. Auch jetzt in der Osteria Due, Tisch 21. Sein Stammplatz - auch der Vagabund aus Harvestehude braucht Konstanten.

"Mein Marktsegment ist das des sensiblen Mannes, selten wie er ist", amüsiert er sich und lästert übergangslos: "Wobei Menschen ja heute auch durch Krankheiten, Demenzphänomene, große Niederlagen und Börsencrashs zu sensiblen Männern werden können. Ich kann nichts anderes. Kommunikation ist nun mal meist ein eher sensibler Vorgang, auch alles Künstlerische."

Sensibel sein heißt, empathisch zu reagieren wie in der Kindheit: "Kinder haben da einen ganz unmittelbaren Reflex. Sie brechen in Tränen aus, wenn sie den ersten Bettler ihres Lebens sehen. Viele Leute legen das im Lauf ihres Lebens ab, weil sie glauben, das sei unprofessionell. Ich habe meinen Beruf daraus gemacht, Lesen und Schreiben. Und das geht nun mal nicht ohne Empathie, denn Literatur will die Menschen dazu bringen, mitzuempfinden."

Seine Themen findet er so - "ich hatte immer die Vorstellung, dass Intellektualität sich dann richtig entfaltet, wenn sie einen Moment des Emotionalen hat, eine Klugheit des Fühlens. Und Leidenschaft auslöst." So wie seine Lust am Formulieren.

Roger Willemsen, geboren in Bonn, inzwischen 56 Jahre alt, ist Schriftsteller, seine Bücher sind regelmäßig Bestseller. Und er ist Weltreisender aus Passion, immer auf der Suche nach Bildern, nach Gefühlen. Der Moderator Willemsen ist lange schon in den Hintergrund getreten, "ich bin inzwischen sehr privilegiert, nur noch zu machen, was meine Leidenschaften fordern. Alle Fragen des Ökonomischen oder Repräsentativen sind dem nachgeordnet." Die ideale Grundlage für ein unabhängiges Leben mit ausgiebigen Recherche-Reisen.

"80 Länder werden es schon gewesen sein", überlegt er. Orte wie Timbuktu, der Kongo, Südafrika, Sibirien und Kamtschatka, Afghanistan und der Himalaja, Patagonien, Tonga, der Nordpol und etliche mehr waren es für sein jüngstes Buch "Die Enden der Welt". "Wobei man schon merkt, dass Materialermüdung einsetzt. Ich könnte nicht mehr auf jeden Vulkan steigen wie früher."

Was treibt ihn an - will er von hier weg oder einfach irgendwo hin? "Gute Frage. Aus Hamburg muss ich nicht weg, weil ich hier sehr gerne lebe. Man wird übersehen, einigermaßen dezent - das liegt mir sehr." Aber da ist auch das nicht schweigende Fernweh.

Und der Reiz des Alleinreisens. "Vielleicht ist es das Gegengift gegen das öffentliche Arbeiten. Nur so erlebt man das Glück eines leeren Tages, irgendwo auf Borneo aufzuwachen und zu wissen, es gibt nichts, kein Telefon, keine Frage zu beantworten."

Alleinsein muss man aushalten können. Er erzählt von einer Witwe auf einem sturmumtosten Hügel in Patagonien, "die kriegt alle drei Wochen mal Besuch, sonst sitzt sie da - ohne Strom, ohne Bücher, ohne CDs. Und ich dachte: Was muss das für ein Kopf sein, der die Konfrontation mit sich selber so dauerhaft aushält? Das könnte ich gar nicht mehr."

Er sucht anderes - "einen guten Satz. Eine spezifische Erregung. Ich hänge am Situativen, an Atmosphären, an schrägen Konstellationen zwischen Leuten. Ankommen ist gar nicht erwünscht." Er sinniert: "Irgendwann wird das Fremde so eine Art Textil, das sich um Sie legt wie ein Mantel, das Geräusch, der Geruch, die Verdichtung, die vielen Menschen."

Daraus wachsen neue Begegnungen. "Polynesien: Ein Arm, breit und braun, streckt sich aus einem Toyota-Pick-up und prüft den sanften Regen. Ich denke: Du legst jetzt deine Hand in diese Hand und guckst, was passiert. Die Hand schließt sich wie ein Schraubstock, zieht mich zum Wagen, und ich schaue in das Gesicht eines Mike Tyson, mit Gesichtstätowierung. Das war ein tongaischer Rugbyspieler. Mit dem bin ich dann eine Woche lang rumgereist, auch zur Beerdigung seiner Großtante."

Woher kommt diese endlose Neugier? "Ich glaube, es ernährt mich, Neues zu erfahren. Ich wundere mich immer, wenn Menschen die sozialen Situationen, die sich bieten, nicht nutzen. Mit dem Taxifahrer rede ich, weil ich da etwas erfahre, was ich sonst nicht erfahren hätte."

Daraus macht er Texte. "Es ist eher so, dass man im Gefühl für eine Situation oder eine Landschaft denkt: Hier möchte ich gern präzise sein. Und dann stehe ich an einem Grenzfluss im Norden Afghanistans oder irgendwo in Sibirien und spüre: das festhalten! Es ist nicht fotografisch, nicht spektakulär, keine Sehenswürdigkeit, es liegt eine Qualität des Unscheinbaren darin - das bindet mein Interesse." Er kann auch anders: "Wenn ich ein Buch mache über die Guantánamo-Häftlinge, ist das Empörungsenergie, die mir sagt: Das kann doch nicht sein."

Ein Gespräch mit Roger Willemsen hat etwas von einem Spaziergang durch die Cloud, den virtuellen Ort, wo unsere Daten sind, wenn sie nicht bei uns sind. Man pflückt hier eine Idee, dort ein Bonmot, streift nutzloses Wissen, spürt große Gefühle.

Willemsen, der sicher bei vielen potenziellen Schwiegermüttern als Idealkandidat durchgehen würde, ist auch zu Hause gern allein. "Ich erspare vielen Menschen Unglück dadurch, dass ich alleine bin. So wie es Menschen gibt, die sehr geeignet sind, Ehepartner zu sein, gibt es auch solche, die das nicht sind." Bedauerlich? Er lacht. "Ach, ich bin so marottenhaft in manchem, ich liebe es, meine Musik aufzulegen, mich im Haus zu bewegen nach eigenem Gusto. Dann hab ich das Gefühl, ich bin vollkommen genügsam. Ich habe sehr gute Freunde, habe statt einer Familie ein quasi familiäres System von Freunden und Komplizen."

Punktuelle Vertiefung ausgeschlossen? "Nein, auch mal Geliebte. Meistens spült mich mein Leben plötzlich an die Seite von Personen, und ich hab Glück, dass ich die einfach mag, oder die bleiben einfach irgendwie an mir hängen. Und eines Tages denke ich: Was für ein schöner Mensch!"

Irgendwie hat man die Idee, dass ihm vieles zufliegt. Im Fernsehen zum Beispiel, wo früher Willemsen omnipräsent war wie heute nur Richard David Precht. "Ich glaube, jeder hat eine Medienpubertät. Man wird entdeckt, und man ist bezaubert davon, dass man überall gefragt wird. Wer das nicht schnell hinter sich bringt, wird nie erwachsen im Medium. Deshalb war mein Ansatz, sehr schnell zu sagen: ,Verweigere dich!' Ich habe 13 unterschiedliche Sendungen gemacht und die meisten davon selbst gekündigt."

Er braucht das nicht. Ist auch befremdet, wenn Funktionsträger und Machtmenschen zusammen sind. "Da denk ich: Mein Gott, wie viel Hierarchie, wie viel Trophäen vorzeigen und Status. Ich finde sie sehr enttäuschend, die Macht. So, wie sie eingesetzt wird, hat sie wenig. Sie nutzt ihren riesigen Spielraum nur zu anderthalb Prozent aus. Zum Beispiel den, Gutes zu tun und Dinge zum Positiven zu ändern."

Es gibt Dinge, die sind ihm wichtiger. Sein Lehrauftrag an der Humboldt-Universität in Berlin, Literaturwissenschaft. Und sein Engagement für Afghanistan. Gerade hat er in der Berliner Philharmonie in seiner Weltmusik-Reihe afghanische Musik vorgestellt. "Der Botschafter sagte hinterher: ,Was ich in vielen Jahren versuche hinzubekommen, das erreichen Sie hier in wenigen Minuten.'"

Den afghanischen Frauenverein unterstützt er, "der weiht jetzt eine Schule ein, was beglückend ist". Was verbindet ihn mit Afghanistan? "Es war einmal einer meiner Sehnsuchtsorte." 2005 war er zum ersten Mal dort. Und ist erschüttert: "Ich hatte nie zuvor eine Situation erlebt, wo Menschen nach 25 Jahren Krieg fragen: ,Was macht man eigentlich mit Frieden? Was ist lieben? Was ist trösten? Was trauern? Was alt werden?' Alles, was bei uns selbstverständlich ist, entsteht da erst wieder. Für jeden, der Kommunikation zu seinem Hauptberuf hat, ist es ein ergreifender Prozess, so etwas zu bezeugen." Afghanistan habe, sagt er, seine "Arbeitsteilung zwischen der Sensibilität, die ich einem Text gegenüber bringe und den lebenden Menschen gegenüber" verändert.

Hin und wieder lässt der sensible Mann tief blicken. Wenn er etwa darüber spricht, was ihm seine vielen Lesungen geben. Da holt er weit aus. "Meine Mutter nimmt an dem, was ich beruflich tue, nicht so sehr teil; sie wäre am glücklichsten gewesen, wenn ich einfach in München Professor geworden wäre."

Schmerzt das? "Ja. Dass man irgendwann merkt, dass man eine Funktion in der Mutter-Sohn-Beziehung besetzt. Man will aber nicht die Funktion besetzen, man will geliebt werden. Wenn Liebe Belohnung für Wohlverhalten wird, ist sie keine Liebe mehr in meinem Sinn. Heute stehen Abende, die meinen Zuhörern etwas bedeuten, manchmal an der Stelle. Nicht der Applaus, eher wenn man in den Gesichtern sieht: Das saß."

Worum geht es ihm da? "In der dicksten Dosierung: Einsamkeit überbrücken, die eigene wie die im Saal, Dinge schärfer einstellen, Verbindungen zu schlagen zwischen Menschen. In der dünnsten: Ich habe nichts dagegen, die Leute zu unterhalten, neue Ideen zu pflanzen. Ich mag es, Menschen produktiv zu machen."

Hat er, der so viel schon erlebt hat, noch einen größeren Traum auf seiner Agenda? Er zögert keine Sekunde. "Die Liebe. Unbedingt. Es ist immer die Liebe. Ein neues Gesicht der Liebe, eine neue Verlässlichkeit der Liebe. Wenn es etwas gibt, dann ist es das."

Der rote Faden geht weiter an Heinz Wings, Chef der Sparda-Bank Hamburg, "weil ich ihn als Mann humanitärer Überzeugung erlebe, der unbürokratisch hilft", sagt Willemsen