Vor 19 Jahren gab es Lichterketten - heute löst der Terror der Neonazis keine Proteste aus

Es ist dunkel draußen. Und man könnte meinen, das sei völlig normal im Winter. Aber das ist es nicht. Als vor 19 Jahren am 23. November in Mölln Menschen verbrannten, weil sie eine andere Hautfarbe hatten und eine andere Sprache sprachen, erschrak Deutschland. Wir erschraken und stellten uns auf, gegen Neonazis, gegen Fremdenfeindlichkeit - gegen den Hass. In Hamburg kamen 450 000 Menschen zusammen, stellten sich rund um die Alster auf und leuchteten mit Kerzen und Taschenlampen gegen die braune Dunkelheit an. Hier waren es die Medien, die dazu aufriefen. Dem Vorbild folgten Menschen in anderen Städten. Ihre Lichterketten zeigten, dass man es mit ihnen, mit uns nicht werde machen können. Dass menschenfeindliches Gedankengut in Deutschland kein Zuhause hat, Menschen aller Herren Länder aber schon.

Wo bleibt der Aufschrei? Nicht nur, dass es heute keine Lichterketten gibt - Zeichen ließen sich auch anders setzen - es scheint vielmehr so zu sein, dass heute niemand käme, würde dazu aufgerufen. Ein Blick auf die Quoten der Abendtalkshows der vergangenen zehn Tage genügt: Ob Jauch, ob Plasberg oder Beckmann, ob Strunz oder Illner - keine der Sendungen, die Stellung bezogen, sich mit Verfassungsschutz, NPD-Verbot, der "Mörderbande aus Zwickau" oder mit V-Leuten befassten, hat gute Einschaltquoten erzielt. "Der Spiegel" hat mit seiner Titelwahl über "die braune Armee Fraktion" nicht die gewohnte Masse erreicht, und der "Stern" wollte das Risiko wohl erst gar nicht eingehen und hob das Thema "Wie Hormone unser Leben lenken" auf den Titel.

Das macht ratlos. Was sagt das aus über uns? Zehn Menschen sind tot. Über 13 Jahre hinweg sind gut vernetzte Mörder nicht entdeckt worden und wären es nicht, wenn sie sich nicht selbst getötet hätten. Warum findet das Thema so wenig Widerhall? Haben wir einfach andere Sorgen? Sind wir abgestumpft in den vergangenen 19 Jahren? Haben wir uns daran gewöhnt - nach Solingen, Hoyerswerda und anderen Übergriffen? Sind wir verroht? Haben die Schrecken der Welt - 9/11, Beslan, Irak - dazu geführt, dass wir das Böse akzeptieren? Sind wir uns unserer Freiheit so sicher, dass wir alle bedrohlichen Zeichen in den Wind schreiben? Wir waren uns schließlich einig, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Oder ist es genau das - dass wir es leid sind, an die deutsche Geschichte erinnert zu werden?

Und wo endet es, wenn auch die Zeitungen und Sendeformate, die jetzt nicht ausgewichen sind, in Zukunft andere Themen vorziehen, weil die auf mehr Interesse stoßen? Eine selbst gewählte Zensur der Wahrheit, wollen wir das wirklich?

Die Politik hat überraschend gut und einig reagiert, setzt Zeichen - der Anstand der Zuständigen ist gewahrt. Jetzt ist es Zeit für den Aufstand des Anstands. Zeit für uns. Es geht nicht um die Vergangenheit. Nicht die Geschichte unserer Vorfahren, an der wir keine Schuld tragen, ist es, die heute zur Debatte steht. Es geht nicht um den mahnenden Satz: dass es nie wieder geschehen darf. Es geht um die Gegenwart.

Es geht um das Heute, das nicht zum Morgen werden darf. Sage niemand, das sei nicht möglich! Man könnte es einen historischen Vorteil nennen, den wir den Generationen gegenüber haben, die nicht verhinderten, dass Millionen von Menschen ermordet wurden. Der Vorteil lautet: Wissen. Wir wissen, was geschehen ist; wissen, dass geschehen konnte, was niemals hätte geschehen dürfen.

Wehret den Anfängen, könnte man sagen, wäre es dafür nicht zu spät. Die Tatsache, dass Menschen in unserem Land getötet werden, weil sie dem Idealbild des Deutschen in den Augen einer Gruppe Deutscher nicht entsprechen, zeigt uns, dass wir mittendrin sind. Vielleicht nicht mittendrin auf einer Skala der möglichen Abscheulichkeiten, vielleicht nicht auf einer Zeitachse; aber mittendrin in einer Lebenssituation, die zu einer Charaktereigenschaft unseres Landes werden kann. Das muss uns klar sein. Wir haben es in der Hand. Anstand darf man sich nicht nehmen lassen.