Der Zaun auf St. Pauli, der Obdachlose fernhalten soll, provoziert immer mehr Proteste. Auch Touristen sind über das Vorgehen entsetzt.

Hamburg. Hafen, Elbphilharmonie und "Tarzan"-Musical - das lange Hamburg-Wochenende von Michael und Angela Gratzke hatte mit den üblichen Attraktionen begonnen, bevor die beiden eine ungewöhnliche Sehenswürdigkeit stoppte. Verdutzt standen die beiden Karlsruher Touristen am Sonnabend vor dem 2,80 Meter hohen Zaun, der Obdachlose von der "Platte" an der Kersten-Miles-Brücke auf der Helgoländer Allee fernhalten soll.

Die Stahlstreben waren bunt beklebt. Ein Schild bat "Bitte wegflexen", daneben derbere Sprüche mit Kritik am Bezirk und seinem Amtsleiter. Ein Friedhofskranz verkündete: "Am 19.9.2011 verstarb hier die Hamburger Nächstenliebe." Teelichter flackerten. "Schade, dass man den Leuten so die Bleibe wegnimmt", sagte der 51-jährige Michael Gratzke. "Das kann heute so schnell gehen. Verlierst deinen Job, ruck, zuck bist du auf der Straße."

Gratzkes Unwohlsein teilten viele Touristen. "Ein Versagen der Politik", fand Adolf Nolting (74) aus Bielefeld. Eine Reisegruppe aus dem Spreewald, uniformiert in der Tracht eines Frauenvereins, war sich einig: "Lasst die armen Kerle doch dort schlafen." Ein Busfahrer, der unter der Brücke auf die Rückkehr eines Kegelklubs wartet, wurde richtig böse: "Menschenunwürdiger Schandzaun", fluchte er. "Eigentor für eine Stadt, die sich Tor zur Welt nennt."

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Obdachlose umgehen den Zaun bereits

Es war viel los am Wochenende vor dem Zaun. Am Freitag versammelten sich einige Hundert Menschen zur Spontandemo. Am Sonnabend drängten sich zwischen Sperrgitter und geparkten Reisebussen rund 150 Hamburger bei der symbolischen Kranzniederlegung des Obdachlosenmagazins "Hinz und Kunzt". Viele Menschen rüttelten an dem Gitter, das hin und her schwang. Am Nachmittag - der Zaun war mittlerweile an einer Stelle aufgebogen - heftete die Hamburger Linkspartei in großen roten Lettern das Wort "ausgegrenzt" daran. Touristen kamen nun nicht mehr vorbei, ohne Hamburgs jüngsten Sozialkonflikt kennenzulernen. Mancher liest nur flüchtig. "Stimmt es, dass dort jemand erfroren ist?", fragte eine verwirrte Passantin.

Pastor Sieghard Wilm von der St.-Pauli-Kirche war gestern zum Zaun gekommen. "Ein Symbol, eine Provokation, ein politischer Fehler von Schreiber", sagte er. Er fürchte, dass der Zaun als Signal gegen Obdachlose verstanden werde. So wirft das Metallgitter ein Schlaglicht auf Hamburgs Umgang mit seinen schwächsten Mitbürgern. "Es stimmt nicht, dass es genug Unterkünfte gibt, wie Schreiber behauptet", sagte etwa Michael Struck, Leiter des Projekts "Neue Wohnung", dem Abendblatt. Die 60 Betten in seinen Containerdörfern seien immer ausgelastet. "Wir schicken Leute weg, die öffentliche Unterbringung funktioniert nicht." Die städtische Unterkunft Pik As an der Neustädter Straße ist 20 Minuten vom Zaun weg. Das Pik As sei jeden Abend voll, hieß es dort gestern. Am Zaun erklärt Linken-Bürgerschaftsabgeordnete Cansu Özdemir: "Obdachlose Osteuropäer dürfen nicht mehr im Pik As übernachten."

Dabei zeigt Hamburg an anderer Stelle durchaus Herz für Obdachlose. An der Spaldingstraße 1b baut die Stadt derzeit ein altes Hochhaus zu einer Unterkunft für 160 Obdachlose aus. Das bestätigte Nicole Serocka, Sprecherin der Sozialbehörde. Am 1. November sollen die Plätze für das Winternotprogramm eröffnet werden. "Wir werden einen hohen Standard bieten." Dazu gehört, dass in den Zimmern nur zwei bis sechs Betten stehen, es getrennte Duschen für Männer und Frauen gibt und dass die Unterkunft tagsüber gereinigt wird. Jetzt werden neue Möbel aufgestellt und Teppichböden zum Teil erneuert. Im vergangenen Jahr hatte die Idee der Sozialbehörde, einen Bunker als Notunterkunft zu nutzen, heftige Kritik ausgelöst. Diese Idee sei vom Tisch. Weil die neue Unterkunft nur sechs Fußminuten vom Hauptbahnhof entfernt liegt, hält sich die Behörde noch bedeckt. Sie fürchtet, dass die Unterkunft von Obdachlosen genutzt wird, die extra anreisen.

In die offiziellen Unterkünfte will der Obdachlose Jens Pawel lieber nicht. Seit acht Monaten schlafe er dort, wo jetzt der Zaun steht. "Egal was passiert, ich schlafe weiter hier", sagte der 44-Jährige. Ungestörte Nachtruhe sei derzeit aber nicht möglich. "Letzte Nacht haben mich Polizisten dreimal gebeten, mich auf die andere Straßenseite zu legen."