Würde eine Chipkarte Kinder von Hartz-IV-Empfängern unterstützen? In Stuttgart ist das umstrittene Projekt der Regierung bereits Realität.

Das umstrittene Objekt ist klein und flach, handlich und hellblau. Es hat die Maße einer EC-Karte und passt auch genau in diese schwarzen Lesegeräte, ohne die in Kaufhäusern und Schwimmbädern, Tankstellen und Restaurants hierzulande kaum noch was geht. Die Karte hat unten einen schwarzen Streifen, auf dem in weißer Schrift "FamilienCard" steht.

Walter Tattermusch, 62, sitzt in seinem hellen Büro und wundert sich. Der groß gewachsene Mann mit der Halbglatze und dem freundlichen Gesicht ist als Sozialamtsleiter in Stuttgart Probleme gewohnt, aber so aufregend waren die Zeiten wohl noch nie. Alles begann vor rund drei Monaten. Tattermusch lässt die Sekretärin noch mal nachgucken. "Genau, am 8. Juni." Bei einem ersten Expertentreffen in Berlin ging es um die Form der Leistungserbringung für die Kinder aus Hartz-IV-Familien . Bargeld, Gutscheine? Wenn schon, dann Chipkarten, warf Tattermusch in die Runde. Was das denn sei, wurde er gefragt. "In Berlin kannte keiner unsere FamilienCard", sagt er und schüttelt immer noch den Kopf.

Seit neun Jahren wird von der Karte in Stuttgart reger Gebrauch gemacht, ohne dass die Republik davon bisher großartig Notiz genommen hätte. Jetzt aber, seit die Karlsruher Verfassungsrichter eine finanzielle Besserstellung für die 1,7 Millionen Kinder von Hartz-IV-Empfängern verlangt haben, tobt um dieses kleine Stück Plastik im Lande eine Art Glaubenskrieg.

Ist der Chip eine großartige Chance oder führt er ins bürokratische Chaos? Es geht im Kern um einen Verdacht und die daraus zu ziehende Konsequenz. Der kaum einmal ausgesprochene Verdacht lautet: Zu viele arme Eltern verdaddeln das Geld, anstatt es in die Bildung ihrer Kinder zu investieren. Die Konsequenz: Statt Bargeld soll es für diese Bürger bald bundesweit Chips mit einem Guthaben für Bäder und Zoos, Bücherhallen und Museen, Musikschulen und Nachhilfeunterricht geben. Karte statt Kohle, so lautet die Lösung von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) . Die Kritik an den Plänen ist parteiübergreifend und heftig. Und gipfelte jüngst bei Hartz-IV-Gegnern in der kreativen Wortschöpfung einer "Bildungsdiktatur".

Eine Woche nach dem ersten Treffen in Berlin kam noch einmal in einem kleineren Kreis zusammen, und wenig später rief die Ministerin bei ihm in Stuttgart an: "Herr Tattermusch, es geht los." Und prophezeite ihm noch: "Sie werden überrollt."

Stuttgart war plötzlich die Verheißung und das Zauberwort. Berlin hat ein Problem und Stuttgart die Lösung. Und Tattermusch muss nun Gott und der Welt erklären, warum das Kartenmodell aus der Schwabenmetropole zum deutschlandweiten Vorbild taugt. Er tut das gerne und ausführlich. Weil er zum einen eine Erfolgsgeschichte erzählen kann. Weil er aber auch nach 15 Jahren in diesem Job sehr genau die Lebensumstände in den Familien kennt.

"Es erfordert für sehr viele Menschen doch heute schon ein großes Geschick, überhaupt mit ihrem Geld klarzukommen", sagt er und fragt: "Was sind 60 Euro für die Kinder, wenn die Stromrechnung auf dem Tisch liegt?"

Er will damit sagen, dass es bei ihnen in Stuttgart vor zehn Jahren bei der Entwicklung der FamilienCard, übrigens ein Gemeinschaftswerk von CDU und Grünen, von Anfang an weniger um das Misstrauen gegenüber den Eltern ging, sondern um "direkte Leistungen für Kinder, die über die Mittelverwendung des Familieneinkommens ansonsten wenig Mitspracherecht haben".

Dass dies im Ländle prima funktioniert, kann Tattermusch recht eindrucksvoll mit Zahlen belegen. Ein Anrecht auf die FamilienCard haben Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren. Voraussetzung ist, dass die Bruttoeinkünfte der Familie nicht höher sind als 60 000 Euro. Familien mit vier und mehr Kindern erhalten die Karte sogar unabhängig von der Höhe ihres Einkommens.

"Die Karte wird von der Stadt mit einem jährlichen Guthaben von 60 Euro pro Kind aufgeladen", sagt Tattermusch. Im Durchschnitt sind pro Jahr rund 54.000 FamilienCards im Umlauf. Er erwähnt auch, dass das Bruttoeinkommen anfangs bei 80.000 Euro lag und das jährliche Guthaben 90 Euro betrug. Auch Stuttgart musste sparen, im Jahr 2009 gab die Stadt für die Zuwendung 3,7 Millionen Euro aus, für 2010 sind nur noch rund 2,1 Millionen Euro eingeplant.

Das Guthaben ist auf einem elektronischen Chip gespeichert und kann an rund 240 Terminals im Stadtgebiet eingelöst werden. Die extra hierfür entwickelten Lesegeräte stehen in den Schwimmbädern und im Wilhelma-Zoo, in Schulen, Museen und Theatern. Die Karte ermäßigt außerdem die Gebühren der Musikschule und die Elternbeiträge der Stadtranderholung (Waldheime) um 20 Prozent.

"Sehen Sie hier, der Chip besteht aus mehreren 'Geld-Börsen'", erklärt Tattermusch die technischen Feinheiten, die die Karte plötzlich auch für Ministerin von der Leyen so interessant machen. Das Stuttgarter Modell spiele bei den Überlegungen "eine große Rolle", sagte ein Sprecher. Da auf der FamilienCard, so Tattermusch, "noch mehrere Börsen frei sind", kann zum Beispiel eine Börse theoretisch mit den Kosten des Nachhilfeunterrichts für ein Kind gefüllt werden - und dann eben auch nur dort beim Nachhilfelehrer eingelöst werden.

Genau diese Art von Denkmodellen rufen nun die Kritiker so zahlreich auf den Plan. Denn hier geht es plötzlich um die grundlegende Frage des Sozialstaats: Wie viel Einmischung ist möglich und wie viel Bevormundung ist nötig? Und wer bestimmt, was das Beste für die Entwicklung der Kinder ist?

Zu den härtesten Kritikern der geplanten Bildungskarte zählt Bayerns Sozialministerin Christine Harderthauer. Die CSU-Frau spricht von einem unzulässigen "Misstrauensvotum gegen Familien" und warnt davor, "Arbeit suchende Eltern, beispielsweise alleinerziehende Mütter, unter Generalverdacht zu stellen und zu bevormunden".

Probleme sieht auch von der Leyens Minister-Kollegin Kristina Schröder (CDU). Und zwar beim Datenschutz. Die Chipkarte dürfe nicht dazu führen, "dass wir künftig Bewegungsprofile von Kindern und Jugendlichen erstellen können oder staatliche Stellen präzise Informationen über deren Freizeitverhalten sammeln", sagt die Bundesfamilienministerin.

Rückendeckung bekommt von der Leyen dagegen von einem, der sich mit sozialen Brennpunkten bestens auskennt. Heinz Buschkowsky, SPD-Bezirksbürgermeister des Berliner Problemviertels Neukölln, gratuliert: "Hut ab, Frau von der Leyen macht etwas Großartiges." Man müsse den Bildungserwerb der Kinder stärker von der Erziehungskompetenz der Eltern lösen. Wenn der Staat, wie in seinem Bezirk, für 300.000 Menschen jährlich 680 Millionen Euro ausgebe, werde es Zeit, endlich neue Wege einzuschlagen. "Ob Gutscheine oder Chipkarte", sagt Buschkowsky, "Hauptsache, wir investieren endlich direkt in die Kinder und nicht in das Familienbudget." Frau von der Leyen sei auf dem richtigen Weg.

Das findet auch Walter Tattermusch, der den ebenfalls häufig geäußerten Vorwurf der Diskriminierung nicht teilen kann. Gerade eine Chipkarte als gängiges Zahlungsmittel garantiere doch, ganz anders als etwa Gutscheine, dass die Menschen, die damit an der Kasse bezahlen, nicht stigmatisiert werden.

Natürlich müssen noch zahlreiche Fragen geklärt werden. So moniert der paritätische Wohlfahrtsverband, dass man weder in Berlin noch bei der Bundesagentur in Nürnberg wissen könne, was den Kindern vor Ort wirklich fehlt. Kristina Schröder sagt, es wäre "fatal, wenn wir durch eine neue zentralistische Bildungskarte Modelle wie in Stuttgart kaputt machen oder von oben deckeln würden".

Und auch in der Hauptstadt gibt es seit 2009 einen Berlinpass, der Hartz-IV- und Sozialhilfeempfängern den kostenlosen Zugang zu vielen Bibliotheken, Sportvereinen und Jugendklubs sowie den preisgünstigen Eintritt in Museen, Theater, Konzerte, Open-Air-Veranstaltungen oder auch zu Spielen von Hertha BSC ermöglicht. "Alles, was dazu dient, Kindern direkt bessere Bildungschancen zu sichern, begrüßen wir natürlich", sagt Berlins Sozialsenatorin Carola Bluhm. "Aber ich will dafür nicht noch eine zusätzliche Chipkarte." Berlinpass, Ferienpass, Bildungspass - das würde die Leute "völlig verwirren und den Aufwand erheblich erhöhen", so die Politikerin der Linken.

Hinzu kommt die Frage, ob solch eine Karte wirklich für mehr Bildung sorgt. In Stuttgart haben sie ganz genau ermittelt, wofür die FamilienCard im vergangenen Jahr eingesetzt worden ist. 38 Prozent der Nutzer gingen in Schwimmbäder, 22 Prozent in den Zoo. Es folgten mit 18 Prozent "schulische Angebote", vor allem Klassenfahrten und Ausflüge. Am Ende rangieren Theater und Kunstmuseum mit weniger als einem Prozent. "Bildungsförderung im Freibad" titelte süffisant die "Frankfurter Allgemeine". "Auf Staatskosten in den Zoo", assistierte die "Süddeutsche Zeitung". Als gebe es keine sicheren Erkenntnisse darüber, dass Bewegung schlau macht. Und Tierparkbesuche auch.

Walter Tattermusch stört das nicht. Er ist sich sicher, dass Stuttgart so eine Art Pilotversuch für Berlin durchführen wird. Und außer der gesicherten Erkenntnis, dass das Geld durch die Chipkarte "zu 100 Prozent bei den Kindern" ankomme, gebe es noch einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Vorteil. "Es geht bei der Nutzung der Karte ja auch darum, dass die Eltern mit ihren Kindern gemeinsam etwas unternehmen", sagt Tattermusch.