Der Streit um Stuttgart 21 spaltet die Stadt. Nach Hamburg wird Stuttgart zum zweiten Symbolort einer Politik, die nicht mehr auf ihre Bürger hört.

Noch zehn Sekunden. Die meisten der 10.000 Menschen am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs haben sich bereits Stöpsel oder Watte in die Ohren gesteckt und halten jetzt ihre Trillerpfeifen in den Händen. Sie wissen, was passiert, sobald der Schauspieler Walter Sittler oben auf der Bühne anfängt zu zählen. "Zehn, neun, acht ..." Bei null, um Punkt 19 Uhr, schrillt eine Minute lang ein Pfeifkonzert über den Platz. Es klingt viel mehr Menschen in den Ohren, als sich hier an diesem Montagabend versammelt haben.

Sie haben diesem täglichen Ritual einen Namen gegeben. Der "Schwabenstreich". Dieser Protest findet seit Monaten immer mehr Anhänger. Nicht nur in Stuttgart, wo sie in dieser Woche die 40. "Montagsdemo" veranstaltet haben. Auch in anderen Orten in Baden-Württemberg pfeifen sich die Bürger abends um 19 Uhr eine Minute lang die Lunge aus dem Leib. Und auch in Berlin hat man jetzt mit Sorge das Dauer-Pfeifen der Schwaben vernommen.

Sie belassen es nicht dabei. Sie halten Mahnwachen und belagern Tag und Nacht einen 90 Meter langen und drei Meter hohen Bauzaun am Bahnhof. Zuletzt versammelten sich 20.000 Menschen zu einem Schweigemarsch in der Innenstadt. Bei der Blutbuche im Schlossgarten wird mittwochs um 18 Uhr gebetet. Anschließend gibt es am Nordflügel klassische Musik vom Streicherquartett und Kabarett, Dichter-Lesungen und Diskussionen mit Architekten. Am Sonnabend veranstalten Parkschützer ein "Sitzblockadetraining". Donnerstags gibt es eine Info-Veranstaltung samt Rechtsbeihilfe "im Umgang mit Polizei und Justiz bei und nach Aktionen zivilen Ungehorsams".

Die Bürger toben und proben den Aufstand. Mehr Alte als Junge, mehr Frauen als Männer. Ein Ende des Protest-Tsunami ist nicht abzusehen. Wenn im Ländle erst einmal die Ferien vorbei sind, erwarten viele eine noch größere Beteiligung an den verschiedenen Aktionen. "Eine Stadt steht kopf", titelte die "Zeit". Deutschland staunt über die braven Schwaben, Heimat von Daimler und Benz, Porsche und Bosch, deren Fortschrittsglaube der Republik so oft auf die Sprünge geholfen hat.

In Stuttgart soll Großartiges entstehen. Ein Gigaprojekt soll die Schwabenmetropole zum "neuen Herz Europas" werden lassen. Der Hauptbahnhof wird um 90 Grad gedreht und verschwindet komplett unter der Erde. Aus dem alten Kopfbahnhof mit seinen gewaltigen Fassaden an drei Seiten wird ein hochmoderner Durchgangsbahnhof, der die Ost-West-Achse Paris-Bratislava zur Hochgeschwindigkeitsstrecke machen soll. Zum Milliardenprojekt gehört außerdem eine neue Trasse nach Ulm, die die Fahrzeit von Stuttgart durch mehrere Tunnelabschnitte und eine neue Brücke über das Filstal von bisher 54 auf dann nur noch 28 Minuten nahezu halbiert. Und durch die direkte ICE-Anbindung an Flughafen und Messe, wo ebenfalls ein neuer Bahnhof entsteht, verkürzt sich die Fahrzeit von der City von 27 auf nur noch acht Minuten.

Die alte Bahnhofsfläche wird zumneuen Stadtteil, mitten in der City

Damit nicht genug. Obendrauf, auf den frei gewordenen maroden Gleisanlangen, entsteht ein ganz neuer Stadtteil. Wohnen und Arbeiten im Grünen. Mit Parkanlagen und erstmalig freiem Blick von der City auf das Schloss Rosenstein. Kurzum: Wo heute über der Erde hässliche Gleise ein mögliches Ensemble trennen, hat die von Bergen umzingelte 600 000-Einwohner-Metropole nun die Chance, im Zentrum zu wachsen. 11 000 Wohnungen sollen entstehen und 7000 Dauerarbeitsplätze.

Die schöne neue Welt in Stuttgart hat nur einen Haken: Sie spaltet gerade die Stadt. In begeisterte Befürworter (laut Bürgerumfrage 2009: 30 Prozent)und erbitterte Gegner (49 Prozent). Die finden das Ganze unterirdisch und skandieren nun beinahe täglich: "Oben bleiben, oben bleiben."

Peter Dübbers ist einer von ihnen. Der Architekt ist jetzt eine bekannte Größe in Stuttgart. Der kleine, weißhaarige Mann ist, wenn man so will, der einzige Projektgegner, der von "S 21" ganz persönlich betroffen ist. Massive Verschwendung von Milliarden Steuergeldern, gewaltige Kostenexplosion von vier auf aktuell sieben Milliarden Euro für Bahnhof plus Neubaustrecke, zurückgehaltene Gutachten, jahrzehntelange Baustellenwüste, das Fällen von 283 Baumriesen, Gefährdung der Mineralquellen, keine nennenswerten Fahrzeitgewinne und massive Verschlechterungen im Nahverkehr - das sind die seit Monaten aufgezählten Argumente der Aufgebrachten.

Peter Dübbers steht vor dem gewaltigen Südflügel des Bahnhofes und zeigt auf die 270 Meter lange Fassade. 1914 war die Grundsteinlegung. Sein Großvater Paul Bonatz hat das Bauwerk entworfen. Und weil dieses jetzt durch den Abriss von zwei der drei Flügel verstümmelt werden soll, klagt Dübbers vor Gericht auf sein Urheberrecht. Als Vertreter der Nachkommen pocht er auf den Erhalt des Gesamtkunstwerkes. In der ersten Instanz hat er verloren, weil das Gericht beim Abwägen der Interessen der Bahn Vorrang gegeben hat. Am 6. Oktober ist die Berufungsverhandlung. Dübbers sagt, dass die Abrissarbeiten ursprünglich für den November terminiert waren und nun hastig vorgezogen worden sind. "Die da oben wollen eben Fakten schaffen, bevor das Gericht zu einem Urteil kommt."

Möglich, dass hier, abseits von der argumentativen Auseinandersetzung um die Vor- und Nachteile eines Jahrhundertprojektes, die Erklärung liegt für ein neues gesellschaftliches Phänomen. Die Leute wollen ernst genommen werden, sagt der Soziologe Dieter Lucht. "Die Sitzblockade ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen."

Bei Fragen, wem die Stadt gehört und wer was wann als Fortschritt definiert, wechseln die Menschen in der Tat vermehrt von den Stammtischen auf die Straße. Der Bürger mischt sich wieder ein, wenn er meint, dass etwas schiefläuft. Er tut das als Künstler im Hamburger Gängeviertel und als Bauer im Olympiastreit in Garmisch. Er verteidigt alte Bausubstanzen und feuchte Wiesen. Und deshalb ist Stuttgart gerade auf dem besten Weg zu einem bundesweiten Symbolort einer Politik, die nicht mehr auf ihre Bürger hört.

Dübbers war 18 Jahre alt, als sein Großvater starb. "Ich habe für ihn noch Architekturmodelle gebaut." Dübbers hat ein Architekturbüro, hat selbst U- und S-Bahnhöfe entworfen. Er weiß, worüber er sich aufregt. Und wogegen er kämpft. Er hat einen Brief an Kanzlerin Merkel geschrieben und hat der Bahn einen Vorschlag vorgelegt, wie bei einem Tunnelbau das alte Gebäude vollständig erhalten werden könnte.

Genützt hat das alles nichts. Jetzt geht der 71-Jährige regelmäßig zu den Demos. Er gibt mittlerweile "der Straße mehr Chancen als meinem Urheberrecht" und hofft, "dass die Politiker zu der Einsicht kommen, dass sie nicht gegen das Volk regieren können".

Wolfgang Schuster empfängt im Rathaus, 1. Stock, Zimmer 111. Der Stuttgarter Oberbürgermeister ist groß gewachsen, schlank und spricht mit Bedacht. Das helle Arbeitszimmer wirkt aufgeräumt. Wie kann man das, was hier gerade passiert, Außenstehenden erklären? "Nur schwer", sagt Schuster und lächelt. Er versucht es dann trotzdem. Holt etwas aus und sagt, dass es früher eine breite Zustimmung in der Bevölkerung für "S 21" gegeben habe. Dass die Leute dann aber während der langjährigen Planungsphase mit allen demokratischen Verzögerungen das Interesse verloren hätten. Und dass die Gegner seit drei Jahren, durchaus geschickt, eine "Verunsicherungs- und Angstkampagne" fahren. "Das war der entscheidende Wendepunkt: Als aus Sachfragen eine Glaubensfrage wurde."

Der Bürgermeister sagt, Stuttgart 21 ist unumkehrbar

Deswegen lautet der neue Slogan für "S 21" jetzt auch: "Die guten Argumente überwiegen." Man will zurück auf die sachliche Ebene. Will den Menschen die Vorteile einimpfen. Schuster erzählt von einem älteren Mann, der sich neulich erstmals die Ausstellung im alten Bahnhofsturm angeschaut habe und dann schwärmte: "Ich hatte ja keine Ahnung, wie schön das einmal wird."

Schuster sagt, dass mit rund 160 Millionen Euro - als zinsträchtig angelegte Rücklage - die Stadt "faktisch finanziell nicht belastet" werde. Er spricht über die zusätzlichen Einnahmen aus Gewerbe-, Umsatz- und Einkommenssteuer während der langjährigen Bauphase. Natürlich sei bei Schwaben Geld immer ein wichtiges Thema: "Die Stadt wird mit dem Projekt langfristig Geld verdienen."

Er sagt, die Entscheidung für Stuttgart 21 sei "unumkehrbar". Die Verträge sind unterzeichnet, und eine andere Lösung gebe es nicht, denn das Verwaltungsgericht habe festgestellt, dass "K 21", also der Erhalt des Kopfbahnhofs, keine Alternative sei. Wenn ihn der grüne Tübinger Bürgermeister Boris Palmer bei der Montagsdemo öffentlich als Lügner bezeichnet, weil Schuster ihm unter vier Augen gesagt habe, bei Mehrkosten über 100 Millionen werde das Projekt begraben, sagt er: "Palmer ist ein schlechter Verlierer und verdreht die Tatsachen." Dass Zehntausende daraufhin "Lügenpack, Lügenpack" skandieren, findet er "wenig erfreulich". Vorschläge für eine Friedenskonferenz versteht er nicht: "Ich lebe mit niemandem in Unfrieden." Was passiert, wenn sich die ersten 70-Jährigen an die Bäume ketten? "Jeder hat das Recht zu demonstrieren", sagt Schuster, "und die Bahn hat das Recht zu bauen."

Der Schwabenstreich? Schuster spricht von einem architektonischen Geniestreich. Weiter können die Bürger und ihr Meister nicht voneinander entfernt sein. Die Auseinandersetzung wird schärfer. Aktivisten besetzten das Bahnhofsdach. Die Demonstranten haben ein Loch in den Bauzaun gesägt und zum "Tag der offenen Tür" geladen. Bei der Räumung von Sitzblockaden gab es einen verletzten Polizisten. Im Netz tobt der digitale Protest unter www.parkschuetzer.de oder www.bei-abriss-aufstand.de . Bei Facebook und Twitter wird über Aktuelles informiert. "Schuster, mach uns den Beust", fordert ein Plakat am Bauzaun, der, mit Parolen beklebt und mit Stofftieren behängt, längst zum Mahnmal geworden ist.

Hier rüsten sie sich für die nächsten Wochen. Hausfrauen bringen heiße Suppe, Brot und Getränke für die Demonstranten, die die Nacht durchgewacht haben. Es ist an alles gedacht, es herrscht beste Ordnung. Ein Schild mahnt: "Kein Müll, keine Glasflaschen, kein Alkohol - dies ist keine Party!" Einen Steinwurf dahinter knabbert der riesige Abrissbagger die ersten Brocken aus der Decke des Nordflügels. Dass der Schwabenaufstand bröckelt, ist eher unwahrscheinlich.