Zum 60. Jahrestag der Charta der deutschen Heimatvertriebenen kritisiert der deutsche Schriftsteller und Publizist, dass das Dokument die Nazi-Gräuel ausklammert

Heute wird auf Einladung des Bundes der Vertriebenen im Neuen Schloss in Stuttgart der 60. Jahrestag der "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" begangen. Das Motto: "Durch Wahrheit zum Miteinander". Das "Grundgesetz der Vertriebenen", wie die "Charta" auch genannt wird, war am 5. August 1950 mit der Unterschrift der ostdeutschen Landsmannschaften und Vertriebenenverbände als "Aufruf an die Völker der Welt" im Stil eines Staatsaktes aus der Taufe gehoben worden. Schwerpunkte: Bekenntnis zur deutschen Einheit, Wiederaufbau, Eingliederung der Vertriebenen, Recht auf Heimat, Gewaltverzicht. Allenthalben gerühmt als ein "wegweisendes Dokument der deutschen Nachkriegsgeschichte" und "beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe". Kritische Töne fehlen, deshalb zwei Einsprüche.

Erstens: Die Charta vermittelt den Eindruck, als habe die Vertreibung in einem historischen Vakuum stattgefunden. Findet sich doch kein Wort von dem, was ihr vorausgegangen war und zu ihr geführt hatte. In der Charta fehlt jede Spur der Vorgeschichte! Und das, obwohl 1950 noch die offenen Gräber des Vernichtungskrieges rauchten, seine Wunden unvernarbt waren und die Erinnerungen an die Schrecken der deutschen Okkupation allgegenwärtig.

Wer aber nach ihren Urhebern sucht, nach Namen wie Hitler, Himmler, Heydrich, oder nach den Schädelstätten, die sie hinterlassen hatten, der fahndet vergebens. Massenvertreibungen und Zwangsverpflanzungen ganzer Völkerschaften unter deutscher Herrschaft? Ein weißgeblutetes Polen, das tschechische Lidice, Russlands verbrannte Erde, gar Auschwitz? Aus dem Gedächtnis gewischt, wie der Jubel beim Einmarsch deutscher Truppen in das Sudetenland. Die Tatsache, dass die Charta die Vorgeschichte der Vertreibung vollständig ausklammert, entwertet sie bis auf den Grund.

Die Charta kappt die Kausalität zwischen Ursache und Wirkung und exkulpiert die Primärverantwortlichen für die Vertreibung und den Heimatverlust durch Anonymisierung - Hitler und das Kollektiv seiner Anhänger. Damit wird die Charta zu einem Paradebeispiel deutscher Verdrängungskünste!

Zweiter Einspruch: "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung". So das ethische Zentrum der Charta. Was, um Himmels willen, soll das heißen? Ist ihren Vätern und Müttern nicht bewusst gewesen, welch höchst problematischen Schwur sie da abgelegt haben? Nämlich etwas ungeschehen gelassen zu haben, was einem eigentlich zugestanden hätte. Darf man fragen, wer und was denn nun von deutscher Rache und Vergeltung verschont geblieben ist, und wem sie gegolten hätten? Was ist das für ein großmütiger Verzicht, der sich blind und ahnungslos gibt gegenüber dem Inferno, das der Vertreibung der Deutschen vorausgegangen war? Da wurde ein realitätsfernes Konstrukt produziert, um die Moralität seiner Erfinder zu demonstrieren. Der viel gerühmte Gewaltverzicht der Charta - eine bloße Leerformel.

Mit diesem Kernsatz macht die Charta Deutschland zum Gläubiger der Geschichte, die einst okkupierten Länder Mittel- und Osteuropas aber zu deren Schuldnern. Darin liegt der eigentliche Skandal der "Charta".

Kritik an ihr nimmt nichts von dem ungeheuren Leid der Vertriebenen, so wenig, wie sie Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal signalisiert. "Wie kann man diese Heimat verlassen, ohne dass einem das Herz bricht?", heißt es in meinem Buch "Ostpreußen ade - Reise durch ein melancholisches Land". Auch nach 60 Jahren machen einen die Bilder fassungslos: Menschen mit kleiner Habe unterwegs, mit jedem Schritt weiter weg von dem geliebten Zuhause; Menschen geprügelt und im Winter auf offene Güterwagen geladen; darunter Kinder, die verstört in die unbegreifbare Welt der Erwachsenen blicken. Ein Fresko an Schmerz, Verzweiflung, Tod. Und über allem der Verlust der Heimat.

Ich will jedes Recht haben, über deutsches Leid zu weinen, ohne mich deshalb schämen zu müssen (was den Strom meiner Tränen nicht um eine mindert, die ich vergossen habe, vergieße und bis an mein Ende vergießen werde über die Kinder des Holocaust).

Kein Verbrechen von Deutschen rechtfertigt Verbrechen an Deutschen. Die heutigen Staatsmänner im ehemals deutsch besetzten Mittel- und Osteuropa wären deshalb gut beraten, auch da nicht zurückzuschrecken, wo die Geschichte des eigenen Landes bei der Vertreibung der Deutschen nach 1945 nun ihrerseits schmerzhaft wird. Die Humanitas ist unteilbar. Aber genau dieses Prinzip ist von der Charta unentschuldbar missachtet worden.