Die größte Band der Neunzigerjahre ist wieder unterwegs: Massive Attack werden bei einem ihrer raren Konzerte in Berlin endlich verstanden. Niemand spielt so schöne und angenehme Protestmusik.

Zum letzten Mal habe ich Massive Attack im Konzert erlebt, da wurde in geschlossenen Räumen noch geraucht. Sie treten immer seltener auf. Die Neunziger des 20. Jahrhunderts, deren Bild und Klang die Band aus Bristol prägt, liegen so weit zurück, dass man beginnt, die Neunziger als abgeschlossene Epoche wahrzunehmen. Das Berliner Tempodrom wird künstlich eingenebelt, um die Atmosphäre eines vollgekifften Saals zu simulieren. Dann erscheint ein halbes Dutzend Musiker im blauen Bühnenlicht. „Blue Lines“, ihr Album aus dem Frühjahr 1991, ist inzwischen so kanonisch wie Nirvanas „Nevermind“, die Gegenthese ihrer Zeit.

Man konnte sich damals, nach der Geschichtswende von 1989/90, seine Jeans zerreißen und sich selbst bemitleiden. Oder man ließ Musik von Massive Attack laufen und die Welt sich drehen. Nicht dass Trip-Hop ein Narkotikum für Politikverdrossene gewesen wäre: Im südwestenglischen Bristol war es Musikern gelungen, den damals dort herrschenden Zeitgeist einzufangen und erfolgreich auf CDs zu pressen.

Da waren die Klänge alter Dub- und Reggaeplatten, die mit den karibischen Migranten einst am Hafen eingetroffen waren, und man konnte die Tristesse hören, die der Thatcherismus hinterlassen hatte. Keimzellen und Künstlerkollektive wie Wild Bunch begründeten im Trip-Hop ihren eigenen Musikmarkt. Sie nahmen vorweg, was Tony Blair später als „Kreativwirtschaft“ bejubelte. Der Motor der Musik von Massive Attack war die Depression.

Im blauen Dunst der Neunziger

Robert Del Naja, um den alles kreist bei Massive Attack (er steht im Konzert am Pult, während an seiner Seite Silhouetten singen, Schlagwerk und Gerätschaften bedienen, Gitarren und vor allem Bass spielen), hat seinen Stücken immer Weltwarnungen eingeschrieben und Gefahrenzeichen auf die Plattenhüllen drucken lassen.

Als nach „Five Man Army“ in Kuwait der erste Golfkrieg ausbrach, nannte sich die Band vorübergehend nur noch Massive. Ihre zweite Platte nahm den Balkankrieg vorweg. Beim nächsten großen Golfkrieg schaltete Del Naja eine Zeitungsanzeige, gemeinsam mit dem Brit-Pop-Sprecher Damon Albarn, um vor einem Einmarsch im Irak zu warnen – und um Massive Attack als politisches und pazifistisches Gesamtkunstwerk zu etablieren. Aber da waren die Nullerjahre auch schon angebrochen.

Noch sind die Historiker sich uneins, was die Neunziger einmal gewesen sein werden. Bei Massive Attack und im Trip-Hop wirkt die Quellenlage ideal: Die Trägheit und die Tiefe der Musik waren auch wie gemacht für Menschen, die am Tag in Wirtschaftsblasen existierten, anschließend bei After-Work-Partys in Lounges lümmelten und nachts in Lofts mit Lavalampen lebten. In Konzerten geisterten und wankten Massive Attack regelmäßig durch den blauen Dunst.

Aktuelle Nachrichten in MS-DOS

Heute ist jedes ihrer Gastspiele ein Großereignis. Im vergangenen Sommer inszenierten sie bei der Ruhrtriennale den Event „Massive Attack V Adam Curtis“, Adam Curtis zeigte dabei einen seiner Thesenfilme. Im Berliner Tempodrom erledigen sie ihren einzigen Termin für dieses Jahr in Deutschland, das Konzert ist ausverkauft. Das 21. Jahrhundert hat die Bühnenvideotechnik revolutioniert. Über die Bildschirme hinter den Musikanten rasen nun die Botschaften, die niemand mehr unter den Bässen und im Nebel für sich suchen muss.

Was da nicht alles steht und läuft, während Deborah Miller Songs wie „Teardrop“ singt und Horace Andy „Angel“: Zahlen- und Zeichenkolonnen, konsumkritische Barcodes und globalisierungskritische Markennamen, Flaggen und Hoheitszeichen, Drogen, Pharmazeutika und Kampfmittel, Überwachungsprotokolle, Suchanfragen und vor allem googleoptimierte Nachrichten des Tages in der jeweiligen Landessprache: „Heavy Metal macht Kopfweh“; „Die City West wird poliert“; „Ratz! Fatz! Mats!“

Die Pixel, und das ist der Witz des Abends, sind dabei so grob wie in den Neunzigern, die Schrift gern grün auf schwarz mit einem blinkenden Cursor wie in MS-DOS, dem herrschenden Betriebssystem im Zeitalter des Trip-Hop. Massive Attack können ihre Videoschirme in die Waagerechte fahren lassen; sie scheinen dann auf die Band herab wie Sonnenstrahler im Solarium und legen den Maschinenraum hinter der Bühne frei, die alte Industrie. Man kann sich fragen, warum zu „Unfinished Sympathy“, der Hymne der Epoche, Namen und Kassiber aus Guantanamo zu lesen sind. Man kann es aber auch verstehen. Und das ist 2014 die Mission von Massive Attack im Konzert: Seit 25 Jahren retten sie die Welt mit ihrer herrlichen Musik und ihren überwältigenden Auftritten, sie wollen einfach nur verstanden werden. Ich habe noch nie so viele Menschen kiffen sehen wie danach unter dem Abendhimmel.