Anfang Juli flohen die Separatisten aus dem ostukrainischen Slawjansk. Noch immer leben dort die Menschen ohne Wasser und Strom. In den Straßen liegen Minen, Einwohner berichten von Massengräbern.

Nastja Petrenko kann den Krieg nicht vergessen. Das ferne Donnern der Artillerie und das dumpfe Rattern der Kalaschnikows gehen ihr nicht aus dem Kopf. Wochenlang hatte sich Petrenko mit ihrer Mutter im Keller eines Plattenbaus versteckt. Fast jeden Tag hörte sie Schüsse von der Straße. „Irgendwann konnte ich das Kaliber der Maschinengewehre unterscheiden“, sagt die Frau mit der gestreiften Bluse und den kurzen Haaren. Jeden Vormittag nimmt die 51-Jährige ihre zwei Plastikkübel, läuft zum Leninplatz in Slawjansk und wartet auf frisches Wasser.

Über drei Monate wurde ihre Heimatstadt Slawjansk im Osten der Ukraine von Separatisten besetzt und von der Armee belagert. Anfang Juli flohen die Aufständischen, doch der Bürgerkrieg hinterließ seine Spuren in der Plattenbaustadt: Es gibt weder Wasser noch Strom, in einigen Straßen liegen Minen, Einwohner berichten von Massengräbern. Das Militär schottet die Stadt weiterhin ab und kämpft nun um die Köpfe der Menschen. Das ist nicht leicht, denn Slawjansk galt einst als Hochburg der Rebellen.

Im Mai schickt Nastja Petrenko ihre Tochter und ihren Sohn zu Verwandten nach Odessa, sie selbst harrt mit ihrer 82 Jahre alten Mutter in Slawjansk aus, „weil wir die Wohnung nicht alleine lassen wollten“. Mehrmals schlagen Granaten in Wohnhäuser ein. Trotz der Gefahr wagt sich Petrenko manchmal auf die Straße, um Wasser zu holen, Brot zu kaufen oder Geld aufs Handy zu laden. „Man wusste nicht, ob man wieder zurückkommen würde.“

Unter der Kita liegen vermutlich Minen

Neben der orthodoxen Kirche sitzt Rentner Alexej Michailow auf einer Parkbank. Vor seinem Haus hatten sich Separatisten hinter einer Straßensperre aus Betonplatten und Sandsäcken verschanzt, berichtet der 68-Jährige. Die Armee nahm die Stellung unter Beschuss. „Granaten explodierten vor meiner Haustür, sodass die Scheiben zersplitterten“, sagt der Mann mit der Brille und dem grauen Bart. Er sei aus Angst die ganze Zeit zu Hause geblieben und habe sich von Konserven ernährt, erzählt er.

Nastja Petrenko deutet auf ein ausgebranntes Backsteinhaus in der Nähe des Leninplatzes. Es beherbergte früher ein Café und Spielräume für Kinder. Separatisten hatten den zweigeschossigen Bau besetzt, weil sich unter dem Gebäude der einzige intakte Brunnen der Stadt befand. Die Armee erfuhr davon und bombardierte das Haus. Bei dem Angriff starben nicht nur die Rebellen, sondern auch ein fünfjähriges Mädchen. „Vorsicht Minen“, warnt eine Schrift an der verkohlten Fassade. In den Trümmern können Sprengsätze liegen, die beim Einschlag nicht detonierten.

Nastja Petrenko lebt seit ihrer Kindheit in Slawjansk. Zu Sowjetzeiten war die Industriestadt bekannt für ihre Keramikwerke. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine gingen die Betriebe zugrunde, die Stadt versank in Armut. „Die meisten Leute wünschen sich die Sowjetunion zurück“, sagt Petrenko. Für die Maidan-Regierung in Kiew und den Westen hätte man kaum etwas übrig.

Viele Stimmen für die „Volksrepublik Donezk“

Deshalb bejubeln viele Bürger die Separatisten, als diese im April in Slawjansk auftauchen. Auch Nastja Petrenko begrüßt die Aufständischen. Im Mai organisieren die Milizen ein Referendum, Petrenko stimmt für die „Volksrepublik Donezk“ und die Abspaltung von der Ukraine. „Unser Leben würde dann besser werden“, dachte Petrenko.

Während der Belagerung zeigen die Separatisten ihr wahres Gesicht. „Banden zogen marodierend durch die Straßen, plünderten Geschäfte und raubten Autos“, erzählt Petrenko. Die Anarchie war sogar Milizenkommandant Igor Girkin zu viel. Der Russe mit dem Spitznamen „Schütze“ habe fünf Marodeure wegen Disziplinlosigkeit erschießen lassen, berichten ukrainische Zeitungen.

Auch vor dem Militär hatten die Einwohner zunächst Angst, berichtet Rentner Michailow. In der Stadt kursierte das Gerücht, die Soldaten würden sich an den Bürgern rächen. Nastja Petrenko war schließlich erleichtert, als die Armee Anfang Juli in die Stadt einrückte. „Ich dachte, das wären Faschisten, aber die sind genauso wie wir“, ergänzt sie.

Hinter dem Krankenhaus liegt ein vermintes Massengrab

Auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung in Slawjansk, die meisten Häuser jedenfalls blieben von den Kämpfen verschont. Einige Fassaden zeigen Einschusslöcher, Holzplatten ersetzen zersplitterte Fenster. Doch der Tod kann hinter jeder Straßenecke lauern. Zum Beispiel in der Uridskastraße, wo hinter Birken versteckt die Kinderklinik steht. Separatisten hielten das Krankenhaus besetzt, eine Granate hat ein meterbreites Loch in die Ziegelsteinfassade gerissen. Hinter dem Krankenhaus, erzählen Einwohner, hätten Separatisten ein Massengrab ausgehoben. „Sie haben stundenlang gegraben und dort rund zwanzig Leichen verscharrt“, erzählt Nastja Petrenko. Vermutlich haben die Separatisten dort ihre Kämpfer begraben, weil die Kühlung des Leichenschauhauses nicht mehr funktionierte. Die Armee warnt Einwohner davor, sich der Stelle zu nähern. In den Gebüschen sollen Tretminen und Sprengsätze mit Drahtauslöser liegen.

Der Krieg ist vorüber, dennoch schottet die Armee Slawjansk weiterhin ab. Auf der Schnellstraße Richtung Charkow hat das Militär fünf Kontrollposten errichtet. Mit Kalaschnikows bewaffnete Soldaten kontrollieren dort Pässe und durchsuchen Kofferräume nach Waffen. So will Kiew verhindern, dass nochmals Separatisten in Slawjansk einsickern. Wie schwer das ist, erläutert Feldwebel Nikolai, der an einem Posten bei Dowhenke Wache schiebt und früher in Dresden stationiert war. „Tragen die Leute Waffen, dann sind es Separatisten. Lassen sie die Waffen fallen, sind es Zivilisten“, sagt der 54-Jährige mit dem Tattoo am Arm.

Jetzt muss Kiew seine Bürger zurückerobern

Nicht alle Separatisten seien geflohen, vermutet das Militär, einige hätten sich einfach unter die Leute gemischt. Deshalb versucht die Armee, die Köpfe der Bürger zu erobern. Vor dem Rathaus hat die neue Stadtregierung eine Wandzeitung aufgestellt. „Wer Separatismus unterstützt, macht sich strafbar“, steht darauf geschrieben. Im Rathaus teilen Polizisten Brot, Reis und Konserven aus.

Russische Popmusik schallt aus Lautsprechern über den weiten Leninplatz, als wolle das Militär zeigen, dass kein Grund zur Panik besteht. Weil es in den Häusern keinen Strom gibt, zapfen Leute Energie von Straßenlaternen ab. An den Leuchten hängen Steckdosen mit angestöpselten Handys und Laptops. Dann fährt ein Jeep des Katastrophendienstes über den Betonplatz. Wer sich duschen wolle, verkündet eine Megafonstimme, könne um 13 Uhr ins Rathaus kommen. Endlich rollt der Tanklaster mit Trinkwasser auf den Leninplatz ein. Nastja Petrenko stellt sich in die Schlange zu den anderen Rentnern, Müttern und Kindern.