Nach mehr als einem Vierteljahrhundert verlässt Gewandmeisterin Doris Kirchhof aus Altergründen die Hamburgische Staatsoper. Mit ihrer Arbeitshaltung hat sie das Haus mit geprägt.

Hamburg. Wenn nahender Ruhestand bedeutet, dass man im letzten Berufsjahr so langsam kürzer tritt, dass man nicht mehr alles ganz so genau nimmt und auch mal fünfe gerade sein lässt, dann ist Doris Kirchhof aber so was von überhaupt nicht im nahenden Ruhestand. Nur der Kalender sagt unabweisbar, dass am Donnerstag kommender Woche, am 31. Juli, ihr letzter Arbeitstag als Leiterin der Kostüm- und Maskenabteilung an der Hamburgischen Staatsoper sein wird.

Sie lebt auf dieses Datum zu – nicht mit der höheren Gelassenheit derjenigen, die bald alle Zeit der Welt haben wird. Sondern in der Besorgnis, ob sie auch alles vom Tisch haben wird bis dahin, von diesem Tisch in ihrem Büro, der ziemlich aufgeräumt aussieht und der wahrscheinlich immer ziemlich aufgeräumt aussah in all den 26 Jahren, die sie fürs kunstvolle Verkleiden und Verwandeln von Sängern und Tänzern in Bühnenfiguren zuständig war.

Doris Kirchhof mag die Ausstrahlung eines stillen Wassers haben, das so schnell nichts zu trüben vermag; aber Nachlässigkeit bei der Arbeit, sich zufriedengeben mit zweit- oder drittbesten Lösungen, faule Kompromisse gar, das erlaubt sie weder sich noch den 125 Mitarbeitern aus Schneiderei und Maske, für deren Tun sie noch eine Woche lang verantwortlich ist. „Natürlich muss man Kompromisse machen“, sagt sie. „Aber das Ziel ist, dem, was gewünscht ist, möglichst nahe zu kommen. Da war ich immer sehr streng. Die Frage ist nicht, ob etwas geht, sondern wie.“

Wenn Doris Kirchhof über ihre Arbeit spricht, über ihre Arbeitshaltung, klingt zugleich ein Berufsethos durch, mit dem sie das Haus mitgeprägt hat, über ein Vierteljahrhundert lang. Wer wollte ihr da verdenken, dass sie das Präsens benutzt, als würde all das nie Vergangenheit – das Besprechen der Kostümentwürfe nach bisweilen hochfliegenden Plänen, die sich daran anschließende Suche nach geeigneten Stoffen, Schnitten, Materialien, die Freude auch am Auffinden eben nicht der zweit- oder drittbesten, sondern der jeweils allerbesten Lösung für ein kniffliges gestalterisches Problem.

„Bäcker und Schneider werden immer gebraucht“

Die Kindheitsvorlieben der späteren Gewandmeisterin Doris Kirchhof ließen kaum eine Karriere im künstlerisch motivierten Textilwesen erwarten. Weder nähte sie schon mit fünf Jahren ihren Puppen Kleider, noch konnte sie später dem Unterrichtsfach Handarbeit etwas abgewinnen. Auf der Schule in ihrer Heimatstadt Göttingen ließ sie eine Klassenkameradin für sich nähen, was zu nähen war. Chemie und Physik lagen ihr mehr. Warum dann doch eine Schneiderlehre, mit 17, noch dazu am Theater, einem Betrieb, von dem man sofort zu glauben geneigt ist, das vorherrschende Produktionsmittel dort müsse die heiße Nadel sein? „Zufall“, sagt Doris Kirchhof. Zufall – und der nüchterne Gedanke: „Bäcker und Schneider werden immer gebraucht.“

Gelernt hat sie bei Heinz Oswald, der später zu den Städtischen Bühnen nach Frankfurt ging. „Ein ganz toller Meister“, sagt Kirchhof. „Er hat mir Sachen zugetraut.“ Schickte sie, das junge Ding, ganz selbstverständlich zu Besprechungen mit Regisseuren und erlaubte ihr sogar ein bisschen Statisterie. „Er war sich immer sicher, dass ich das kann.“ Wäre es nach Oswald gegangen, hätte Doris Kirchhof vielleicht doch der leise in ihr pochenden Neigung zu einem Berufsleben auf der Bühne nachgegeben und wäre auf die Schauspielschule gewechselt. Aber dazu war sie dann doch zu schüchtern.

„Ich habe über Schüsseln von Aceton gesessen“

Zum Studium Gewandmeisterei und Kostüm ging sie nach Hamburg, wo sie ihre ersten Nächte in der Jugendherberge auf dem Stintfang verbrachte, hoch über der Elbe, hoch über dem Hafen, hoch in ihren Gefühlen, der allzu überschaubaren Heimatstadt, die für sie „ein Horror“ geworden war, endlich entronnen zu sein. Ehe sie 1988 dauerhaft an die Staatsoper kam und man ihr dort, natürlich wieder nur aus Zufall und selbstverständlich ohne jeden eigenen Karriereplan, stetig immer mehr Verantwortung übertrug, war Kirchhof noch an den Theatern Düsseldorf und Frankfurt, machte Kostümmalerei und Schmuckgestaltung und atmete in den Werkstätten mitunter Chemikaliendämpfe ein, mit denen man ganze Dorfgemeinschaften betäuben könnte. „Ich habe über Schüsseln von Aceton gesessen“, erzählt sie.

Für manche entfaltet die Illusionskunst des Kostümbildens mit dem Zeichenstift in der Hand den größten Reiz. Für Doris Kirchhof lag die Inspiration immer im Material selbst. „Ich kreiere am Modell“, sagt sie. „Ich brauche das Objekt.“ Ein Kostümbildner, der mit Farbstiften virtuos umgehen kann, der Kanadier André Barbe, hat zu Kirchhofs liebevoll gestaltetem Abschiedsbuch der Kollegen eine wunderbar beschwingte Zeichnung beigesteuert. Da tanzt sie, wie so oft in Schwarz, eingehakt von André Barbe und seinem Kompagnon Renaud Doucet, dem Regie- und Ausstattungsduo für „La Cenerentola“, das im September auch die Saisoneröffnung mit „La Belle Hélène“ verantwortet. Wenn der Vorhang dafür zum ersten Mal hochgeht, wird die Neurentnerin Doris Kirchhof gewiss im Saal sitzen und sich ziemlich zuständig fühlen. Sie hat ja alles noch sorgfältigst vorbereitet.