Neustadt. „Raub mit Elektroschocker“ – einen griffigen Titel hatte die Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ für den Überfall auf ein Juweliergeschäft in der Hamburger City gefunden. Gut zehn Minuten dauerte der Einspielfilm, der eindrucksvoll das Verbrechen vom Januar 2013 darstellte. Und in dem zwei junge Männer zu sehen waren, wie sie die Tat begehen, beides Typen mit schwarzen, langen Haaren und entschlossenen Mienen, mutmaßliche Verbrecher. Zweitausend Euro Belohnung wurden für gute Hinweise ausgesetzt.

Ein Einsatz, der sich offenbar gelohnt hat. Denn die beiden Männer, die sich jetzt wegen des Überfalls vor dem Landgericht verantworten müssen, sind unter anderem aufgrund der Tipps von Zuschauern in den Fokus der Ermittlungen geraten – und auf die Anklagebank. Beide jung, beide kräftig, beide mit schwarzen Haaren. Schwerer Raub und gefährliche Körperverletzung werden Aslan I. und Tarik S. (Namen geändert) in dem Prozess zur Last gelegt.

Laut Staatsanwaltschaft ließen sich die beiden 26 und 23 Jahre alten Männer in dem Juwelierladen von einem Verkäufer zunächst Schmuckstücke zeigen, dann drückten sie ihm unvermittelt ein Elektroschock-Gerät an den Hals, sodass ihr Opfer zu Boden ging, und flüchteten mit Goldschmuck. „Ich bin das aber wirklich nicht gewesen“, beteuert Tarik S. seine Unschuld.

Ein Zeuge ist sich indes sicher, beide Männer als Täter wiederzuerkennen. Er ist der Inhaber des Schmuckgeschäfts, dem wenige Stunden vor dem Verbrechen zwei Kunden sehr verdächtig vorgekommen waren, weil sie sich ungewöhnlich viele wertvolle Armbänder zeigen ließen und dann zügig den Laden verließen. Wenige Stunden später wurde der Vater des Inhabers, der in dem Geschäft aushalf, zum Opfer des Überfalls. Der Verdacht liegt nahe, dass die Täter und die auffälligen Kunden vom Mittag identisch sind.

Bemüht ist der Zeuge jetzt im Prozess, kramt in seinen Erinnerungen, überlegt. „Beide hatten lange Haare, zum Zopf gebunden“, erzählt der junge Mann. „Und beide hatten mehr als Dreitagebart. Bei ‚Aktenzeichen XY‘ konnte man das auch genau sehen“, ergänzt er eifrig. Mehrfach hat er sich den Beitrag der Sendung angesehen, zuletzt am Tag vor seiner Aussage. „Aber mehr, um das zu verarbeiten. Für mich ist es wichtig, dass die Täter gefasst werden, weil mein Vater verletzt wurde.“ Unmittelbar nach dem Verbrechen hatte er einen Anruf erhalten mit der Nachricht, dass „etwas passiert ist. Ich bin dann sofort hin. Mein Vater blutete am Hals.“ Von dem Überfall selbst gab es Aufnahmen aus einer Kameraüberwachung, aber von schlechter Qualität. Da kam bei den Ermittlungen ein Zufall zu Hilfe: Ein Bekannter des Opfers, ebenfalls Juwelier, berichtete von zwei Männern, die sich in seinem Harburger Laden verdächtig benommen hätten. Von ihnen gab es gute Überwachungsbilder. Anhand dieser Aufnahmen wurden dem Zeugen bei der Polizei Fotos von möglichen Verdächtigen vorgelegt, und in Anlehnung an diese ist schließlich die Filmsequenz für „Aktenzeichen XY“ gedreht worden. „Das sind hundertprozentig dieselben, die bei mir waren“, ist der Zeuge überzeugt.

Das Problem: Bei einer ersten Aussage bei der Polizei sprach er von einem Mann mit langen Haaren und von einem zweiten mit kurzem Putz. Jetzt beteuert er, dass beide lange Haare gehabt hätten. Wie sicher ist nun also die Erinnerung des Zeugen? Letztlich könnte die Frisur für das Urteil entscheidend werden. „Ist es nicht auffällig, dass die Haare des einen erst in dem Moment zu wachsen beginnen, als Sie das Video gesehen haben“, hakt der Verteidiger denn auch pointiert nach. „Wenn Sie jetzt die beiden Angeklagten angucken“, fordert die Vorsitzende Richterin den Zeugen auf, „was geht Ihnen durch den Kopf?“ „Den einen erkenne ich wieder. Und der andere?“ Der Mann zögert, dann sagt er entschlossen: „Der war das auch.“ „Zeugen sind das schlechteste Beweismittel“ lautet eine gängige, aber wenig schmeichelhafte Juristen-Erfahrung. Und obwohl dieser Zeuge sichtlich bemüht ist, scheint seine Aussage gleichwohl nicht überzeugend. Lange Haare, kurze Haare – diese gravierende Abweichung in seiner Schilderung nach der Ansicht der Bilder aus dem anderen Juwelierladen „spricht dafür, dass die Erinnerung durch die Videobilder überlagert wurde“, fasst die Staatsanwältin zusammen. „Und die stammen nicht vom Tatort, sondern aus Harburg“, ergänzt die Vorsitzende. „Ihre Erinnerung könnte Ihnen einen Streich gespielt haben.“ Für den einen Angeklagten soll nun der Prozess fortgesetzt werden, um zu einem Urteil zu kommen. Bei dem anderen geht es zügig: Der 26-jährige Aslan I. erhält einen Freispruch, mangels Beweisen – wegen der falschen Frisur.

Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall