Heute urteilt das Landgericht über Sylvia L. und Wolfgang A. In ihrer Obhut war das elfjährige Mädchen an einer Überdosis Methadon gestorben

Neustadt. Die kleine Stehlampe im Kinderzimmer spendete allenfalls fahles Licht. Im Schein einer Taschenlampe musste der Notarzt um das Leben von Chantal kämpfen; mehr Helligkeit gab es in dem Raum nicht, in dem die Elfjährige mit dem Tode rang – und diesen Kampf verlor. Das Kind starb an einer Methadon-Vergiftung, und die kargen Lichtverhältnisse in jenem Moment, der das Ende ihres Lebens markierte, können gleichsam als Symbol für das Schicksal des Mädchens gedeutet werden. In äußerst trostlosen Verhältnissen geboren, in eine Pflegefamilie mit Drogenproblemen weitergereicht, dort in einem Umfeld aufgewachsen, das viele als „grenzwertig“ schildern und das manche sogar schockierte. Da gab es tatsächlich kaum helle oder gar sonnige Momente. Und sogar im Kampf mit dem Tod wurde Chantal allein gelassen.

An diesem Montag entscheidet das Landgericht darüber, ob die Pflegeeltern von Chantal, Sylvia L. und Wolfgang A., sich der fahrlässigen Tötung an der Elfjährigen schuldig gemacht haben, die vor nunmehr drei Jahren in der Wilhelmsburger Wohnung ihrer Pflegefamilie starb, am 16.Januar 2012. „Das war kein bedauerlicher Unfall, sondern eine schwere Straftat“, hat Staatsanwalt Florian Kirstein die Umstände von Chantals Tod genannt. Die 50-Jährige Pflegemutter und ihr vier Jahre älterer damaliger Partner, beide in langjähriger Rauschgiftabhängigkeit und beide zu jener Zeit Konsumenten der Ersatzdroge Methadon, hätten das gefährliche Medikament nicht hinreichend sicher gelagert, ist der Ankläger überzeugt. Zumindest eine Methadon-Tablette habe „in der Küche“ herumgelegen. Chantal schluckte das Präparat in der Annahme, es handele sich um ein Medikament gegen Übelkeit. Für den vielfach vorbestraften Pflegevater hat Kirstein zweieinhalb Jahre Haft gefordert, für die Pflegemutter eine 15-monatige Bewährungsstrafe.

Die Pflegeeltern beteuern indes, sie hätten ihr Methadon sicher in einer Garage gelagert. Chantal müsse sich die Droge irgendwo anders beschafft haben. Ihre Verteidiger haben auf Freispruch plädiert. In seinem letzten Wort sagt der zierliche, eher stille Wolfgang A.: „Für mich ist es die schlimmste Strafe überhaupt, dass Chantal gestorben ist.“ Und Sylvia L., im Prozess sonst häufig kämpferisch und energisch, schluchzt zuletzt unter Tränen: „Ich habe das Kind in meinem Herzen gehabt.“

Über zehn Verhandlungstage sind in dem Prozess Leben und Sterben des Mädchens beleuchtet und etliche Zeugen gehört worden, darunter Menschen, die eine teilweise überaus irritierende Toleranz offenbarten. Was etwa von manchen als „ungepflegt bis chaotisch“ bezeichnet wurde, nannten andere zuweilen „stimmig“. „Eben Wilhelmsburger Verhältnisse“, sagte ein Zeuge lapidar.

Es geht um eine Wohnung, in der die Pflegeeltern mit zwei eigenen und zwei Pflege-Kindern lebten, dazu drei Hunden und einer Katze. Da war von zeitweiligem Gestank in den Räumen die Rede, von Kleidung und Gerümpel, die überall herumlagen, von einem Herd, der nicht angeschlossen war, davon, dass sich die Kinder jeweils zu zweit eine Matratze teilen mussten. „Für Wilhelmsburger Verhältnisse war das schon in Ordnung“, sagte ein Zeuge. Ein Sozialamtsmitarbeiter meinte, man habe da „eine hohe Toleranz“. Ein anderer Jugendamtsmitarbeiter sprach von „grenzwertigen“ Bedingungen. „Es herrschte ein Tohuwabohu.“ Chantal sei aber gut in der Familie angekommen, der Gesamteindruck sei stimmig, aber verbesserungswürdig gewesen.

„Beklemmend“ empfand es dagegen eine Polizistin, die in der Wohnung war, als der Notarzt versuchte, die mit Methadon vergiftete Chantal zu reanimieren. Alles in der Wohnung sei vollgestellt gewesen, verschmutzt und dunkel, mehreren Leuchten hätten nicht funktioniert, allenfalls ein paar Funzeln. „Ich war entsetzt“, sagt die Beamtin. „Ich hab gedacht: Mensch, hier wohnen Kinder. Vier Kinder. Das ist doch kein Umfeld.“

Die Elfjährige selber fand ihr Leben bei den Pflegeeltern offensichtlich grauenvoll: „Bitte geh zum Jugendamt und hole mich aus dieser schrecklichen Familie“, flehte die Schülerin in einem Schreiben ihren leiblichen Vater an. Dieser war drogenabhängig, die alkoholkranke leibliche Mutter mittlerweile verstorben. Deshalb war Chantal ursprünglich von ihren Eltern weggekommen und wurde in eine Pflegefamilie vermittelt.

Dass auch Sylvia L. und Wolfgang A. eine langjährige Drogenkarriere hatten, wurde nach Aussage einer Jugendamtsmitarbeiterin „nie, nie gesagt“. Das Jugendamt begnügte sich damals noch damit, angehende Pflegeeltern lediglich nach einer Drogenvergangenheit zu befragen; diese Aussagen wurden jedoch offenbar zumindest teilweise nicht überprüft. Seit Chantals Tod wurden die Anforderungen verschärft: Mittlerweile sind ein Führungszeugnis und Gesundheitszeugnis mit Drogentest erforderlich.

Hätte dieser Standard damals schon gegolten, wäre Chantal noch am Leben. Sie wäre mit dem hochgefährlichen Methadon nicht in Berührung gekommen. „Methadon ist eines der stärksten Gifte, die es gibt. Eigentlich gehört es in den Safe“, sagte der Gerichtsmediziner Klaus Püschel in dem Prozess. Chantal sei durch die Methadon-Überdosis ins Koma gefallen, das wie eine Narkose gewirkt habe. Als das Mädchen die Tablette nahm, waren beide Pflegeeltern nicht zu Hause.

Wolfgang A. kam zwar später zurück und sah kurz nach Chantal. Am nächsten Vormittag ging er einfach zur Arbeit. „Ich dachte, sie braucht Ruhe, und ließ sie deshalb liegen“, verteidigte sich der 54-Jährige vor Gericht. „Unerklärlich“ ist es dagegen für Gerichtsmediziner Püschel, „wie man bei dem schlechten Zustand des Kindes gehen kann. Natürlich hätte das Kind überlebt, hätte der Pflegevater das Mädchen wachgehalten oder einen Arzt gerufen.“ Also nur ein bisschen Initiative und etwas Aufmerksamkeit – es wäre so einfach gewesen, Chantal zu retten.