Experten halten Szenario wie beim Untergang des Containerfrachters „München“ für möglich. Kaum mehr Hoffnung für acht Seeleute des Hamburger Schiffs.

Hamburg/Wick. Es muss alles sehr schnell gegangen sein. So schnell, dass die Crew des Hamburger Containerfrachters „Cemfjord“ vermutlich noch nicht mal mehr einen Notruf absetzen konnte, um die Küstenwache über den bevorstehenden Untergang ihres Schiffes zu informieren.

Gegen 14Uhr am Sonnabendnachmittag hatten Passagiere der Fähre „Hrossey“ die sinkende „Cemfjord“ in der Meerenge Pentland Firth rund 24 Kilometer nordöstlich der schottischen Hafenstadt Wick entdeckt. Den Fahrgästen bot sich ein Bild des Grauens: Nur noch der Bug des Containerfrachters ragte aus dem Wasser. Nach den acht vermissten Crewmitgliedern wird aber fieberhaft gesucht. Nach Auskunft der Hamburger Reederei Brise handelt es sich um sieben Polen und einen Seemann von den Philippinen. Allzu viel Hoffnung, dass die Crew überlebt haben könnte, machen Experten jedoch nicht. Wie die Reederei mitteilte, seien die Angehörigen der Seeleute informiert worden.

Am Freitag um 13.15 Uhr war die unter zypriotischer Flagge fahrende „Cemfjord“ zum letzten Mal auf den Kontrollschirmen der schottischen Seeüberwachung aufgetaucht. Zu diesem Zeitpunkt herrschte extrem schlechtes Wetter. Böen mit bis zu 90 Stundenkilometern fegten über die aufgepeitschte Nordsee. Der 83 Meter lange Frachter, der mit 2000 Tonnen Zement an Bord vom dänischen Aalborg auf dem Weg nach Runcorn bei Liverpool war, kenterte dann bei stürmischer See. „Was immer auch geschah, es geschah sehr schnell“, sagte einer der Rettungskräfte, Bill Farquhar, der BBC. Die Passagiere der Fähre berichteten von der gespenstischen Atmosphäre an Bord, nachdem sie den gekenterten Frachter gesichtet hatten. „Wir waren geschockt, komplett geschockt, als wir den Bug aus dem Wasser ragen sahen“, erzählte ein Augenzeuge. Ein anderer berichtete: „Die See war sehr unruhig. Schon beim ersten Blick auf das Schiff wussten wir, dass die Crew in ernsten Schwierigkeiten gewesen sein musste.“

Experten denken an Monsterwelle

Noch ist unklar, warum der Zementfrachter havarierte. Die 1984 von der Bremer Rolandwerft gebaute „Cemfjord“ wurde nach Angaben der Brise-Reederei erst im Dezember einer Inspektion unterzogen. Ergebnis: nichts zu beanstanden. Grundsätzlich sei denkbar, dass entfesselte Naturgewalten auch ein Schiff wie die „Cemfjord“ zum Kentern bringen, sagte Rolf Fremgen vom Sea Survival Center Cuxhaven dem Abendblatt. Als Beispiel nennt der Experte für „Sicherheit und Überleben auf See“ den Containerfrachter „München“, der am 11. Dezember 1978 nördlich der Azoren plötzlich von einem Orkan mit Windgeschwindigkeiten von 110 Stundenkilometern getroffen wurde. Damals war es eine mindestens 25 Meter hohe, sogenannte Monsterwelle, international „Freak wave“ genannt, die den Frachter kentern ließ. Bis dahin hatten Meeresforscher Riesenwellen, die vom Tal bis zum Kamm mehr als 15 Meter messen, als Fantasterei abgetan. Seit dem Unglück nicht mehr.

So wurde auch die Ölplattform „Fall Draupner“ zwischen Großbritannien und Norwegen von einer fast 26 Meter hohen Welle heimgesucht, 2001 krachte ein 35 Meter hohes Ungetüm auf das deutsche Kreuzfahrtschiff „Bremen“ und richtete massive Schäden an. Und gar nicht mal so weit von der Unglücksstelle entfernt, 250 Kilometer westlich von Schottland, nahe der Insel Rockall, wurde im Jahr 2000 eine ganze Reihe von Monsterwellen erfasst.

Zwar spielt bei der Frage, ob Seeleute eine derartige Notsituation überstehen können, neben Faktoren wie der Wassertemperatur auch der reine Überlebenswille eine Rolle. Doch ohne Schutz, so Fremgen, hielten Schiffbrüchige in der etwa acht Grad kalten Nordsee nur wenige Minuten durch. Ein speziell für solche Notfälle geeigneter Neoprenanzug könne zwar ein Absinken der Körperkerntemperatur um mehr als zwei Grad verhindern, allerdings schütze der Anzug nicht länger als sechs Stunden vor Auskühlung.

Suche mit zwei Hubschraubern

Weil Dunkelheit und stürmisches Wetter die Arbeit der Rettungskräfte Sonnabendnacht behinderten, wurde die Suche abgebrochen und am frühen Sonntagmorgen wieder aufgenommen. Mit im Einsatz waren zwei Hubschrauber der britischen Royal Air Force und der Küstenwache. „Außerdem sind vier Rettungsschiffe in dem Gebiet unterwegs“, sagte Tony Redding, Sprecher der Reederei vor Ort, dem Abendblatt. Am Sonntag war der Wind bei erheblich besserer Sicht deutlich abgeflaut. „Die Windstärke liegt nur noch bei 5 bis 6 statt bei 9“, so Redding weiter. „Alles, was wir jetzt tun können, ist warten.“ Es werde „jede Anstrengung“ unternommen, sagte eine Sprecherin der Küstenwache. Doch bisher gebe es keine Spur.

Die „Cemfjord“ ist nicht das erste unter mysteriösen Umständen havarierte Containerschiff der Reederei. Trotz guten Wetters bekam am 21.Februar 2010 das von Brise gemanagte Containerschiff „Angeln“ zwei Meilen vor der Küste der Karibikinsel St.Lucia plötzlich stark Steuerbord-Schlagseite und sank. Glücklicherweise konnten sich die fünfzehn Crewmitglieder aus Osteuropa mit Bordmitteln retten. Weder ein Zusammenstoß mit einem anderen Schiff war die Ursache für die Havarie, noch war die „Angeln“ auf Grund gelaufen. Das Rätsel wurde nie gelöst.