Verein habe Lampedusa-Gruppe „ideologisch ins Schlepptau genommen“. 74 der rund 300 Männer offenbarten sich inzwischen den Behörden

Hamburg. Andreas Listowell sagt, dass er jetzt die Zukunft sehen kann. „Ab Februar darf ich arbeiten.“ Fast vier Jahre nach seiner Flucht aus Libyen scheint sich sein Leben in Hamburg allmählich zu regeln. Danach sah es lange nicht aus. Vor einem Jahr lebte der 30-jährige Ghanaer noch auf dem Gelände der St. Pauli Kirche. Listowell ist einer der bis zu 300 Männer aus der sogenannten Lampedusa-Gruppe. Er und 73 weitere Flüchtlinge haben sich nach monatelangen Verhandlungen den Behörden offenbart.

Vor einem Jahr mündeten die Auseinandersetzungen darüber, wie mit den Lampedusa-Flüchtlingen umzugehen sei, in die schwersten Hamburger Krawalle seit Jahren. Ende Dezember 2013 versammelten sich rund 7300 Demonstranten im Schanzenviertel, darunter nach Polizeischätzungen etwa 4700 gewaltbereite Linksradikale. Die Polizei war mit 3100 Beamten im Einsatz. Die Stimmung war aufgeheizt.

Neben der Flüchtlingsfrage hatte auch die von dem damaligen Eigentümer Klausmartin Kretschmer betriebene Räumung der Roten Flora sowie die Räumung der einsturzgefährdeten Esso-Hochhäuser zu der großen Teilnehmerzahl geführt. Am Schulterblatt flogen Steine, Flaschen, Knallkörper und Farbbeutel. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Reizgas und Schlagstöcke ein. Es war die Rede von mehreren Hundert Verletzten. 300 Randalierer kamen in Gewahrsam, 21 wurden wegen Landfriedensbruchs festgenommen. In der Folge gab es einen Angriff auf die Davidwache mit zum Teil schwerstverletzten Polizisten. Zehn Tage erklärte die Polizei St. Pauli zum Gefahrengebiet.

In der vielschichtigen Szene der Unterstützer und Sympathisanten der Lampedusa-Gruppe hatte sich angesichts des strikten Kurses des Senats Empörung und Unverständnis breitgemacht. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) und Innensenator Michael Neumann (SPD) hatten recht früh ihren Standpunkt in der Sache klargemacht. Zuständig sei Italien, nicht Deutschland. Später hieß es, dass die Lampedusa-Flüchtlinge wie alle anderen Flüchtlinge ihre Identität preisgeben und ihre Fluchtgeschichte erzählen sollten. Erst dann könne über einen Aufenthalt in Deutschland entschieden werden. Doch dazu waren die Männer aus Ghana, Mali oder Nigeria nicht bereit. Sie forderten mit Unterstützung von Flüchtlingsorganisationen ein dauerhaftes Bleiberecht als Gruppe.

Andreas Listowell sah darin eine Möglichkeit, bleiben zu können. Er sagt, er konnte und wollte nicht zurück nach Italien. Nach Libyen oder Ghana schon gar nicht. Auf die Idee, sich auf ein Bleiberecht als Gruppe zu berufen, sei die Flüchtlingsorganisation Karawane gekommen. „Die haben uns gesagt, dass wir zusammenkommen sollen, damit die Leute uns sehen.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte der 30-Jährige nach eigener Aussage schon eine wahre Odyssee hinter sich. Sein Heimatland habe er verlassen, weil er, wie er sagt, einer Volksgruppe angehöre, die verfolgt werde. In Libyen habe er als Gastarbeiter auf dem Bau gearbeitet. In den Bürgerkriegswirren sei er von Soldaten gezwungen worden, das Land zu verlassen – über das Mittelmeer. Im Juni 2011 sei das gewesen. Über Lampedusa ging es dann nach Mailand.

„Dort gab es keine medizinische Versorgung, keine Rechtsberatung“, sagt Listowell. Zwei Jahre später habe es geheißen, die Flüchtlingsunterkunft werde geschlossen. So schildert es Listowell. Niemand werde ihnen Unterkunft in Italien geben. Stattdessen habe es ein Visum, mit dem die Flüchtlinge in Europa reisen dürften, und 400 Euro gegeben. „Sie haben uns gezwungen zu unterschreiben, dass wir beides erhalten haben.“

Für Hamburg habe Listowell sich entschieden, weil er wusste, dass in der Hansestadt viele Ghanaer leben. „Ich hatte gehofft, dass die mir helfen.“ Stattdessen landete er im Winternotprogramm. Als das im April 2013 auslief, habe er mit den anderen Flüchtlingen auf der Straße gestanden. „Wir schliefen in Parks, oft am Bismarck-Denkmal.“ Das Bezirksamt Mitte sei auf die Männer aufmerksam geworden. „Sie sagten uns, wir müssen zurück nach Italien.“ Dann kamen die Karawane-Leute auf die Flüchtlinge zu. „Ich dachte, sie wollen uns helfen.“

„Die Flüchtlinge sind ideologisch ins Schlepptau genommen worden“, sagt Sieghard Wilm. Er ist Pastor der St. Pauli Kirche und hat im Juni 2013 rund 80 Flüchtlinge dort bei sich aufgenommen. Sein Vorwurf in Richtung Karawane: „Wir haben nie kollektives Bleiberecht für die Gruppe gefordert. Das ist uns immer unterstellt worden. Karawane hat das gefordert. Das ist durcheinandergegangen. Es ging uns darum, mit Flüchtlingen menschlich umzugehen.“ Tatsächlich hat sich eine Unterstützerszene aus unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen gebildet. Das Thalia Theater, der FC St. Pauli, Prominente wie der Sänger Jan Delay oder die Recht-auf-Stadt-Bewegung, aber eben auch die Karawane-Leute. „Wir hatten alle Hände mit humanitärer Nothilfe zu tun und haben erst nach und nach gemerkt, wer dahintersteckt.“

Gut möglich, dass Wilm deshalb immer wieder unterstellt wird, er sei für das Gruppenbleiberecht gewesen. Das und natürlich die Tatsache, dass er einem Teil der Gruppe Zuflucht gewährte. „Bei Innensenator Michael Neumann entstand der Eindruck, die Kirche erzeuge das Problem. Dabei waren wir Teil der Lösung. Wir haben für die Flüchtlinge Handlungsalternativen aufgezeigt“, sagt Wilm heute. Dabei habe Wilm ohnehin nur Einfluss nehmen können auf die Flüchtlinge, die in der Kirche untergekommen waren.

Besser gesagt in den Kirchen: Seit dem 29. November 2013 wurden auf dem Gelände der St. Pauli Kirche, der Martin-Luther-Kirche (Iserbrook) und Christianskirche (Ottensen) beheizbare Wohncontainer aufgestellt. Die andere Hälfte war in Wohngruppen von linken Unterstützergruppen untergekommen. Es gab also spätestens nach der Aufnahme der 80 Männer in der Kirche keine einheitliche Gruppe mehr.

Neumann habe damals an den Pastor appelliert, seinen Einfluss auf die Gruppe geltend zu machen. Ziel war die Einzelfallprüfung. Der Senat wollte auf keinen Fall eine Gruppenlösung. Dafür bekämen die Flüchtlinge ein Verfahren in Deutschland und bräuchten nicht nach Italien zurück. Wilm, so sagt er, sei es gelungen, die Flüchtlinge dazu zu bringen, das Angebot anzunehmen. Allerdings in einer Zeit massiver Polizeipräsenz und enormen Drucks auf die Lampedusa-Gruppe, wie Wilm betont. Im Oktober 2013 wurden die Flüchtlinge rund um die St. Pauli Kirche kontrolliert. Aber Karawane habe den Flüchtlingen das Angebot der Stadt ausgeredet. „Den Karawane-Leuten ging es um das Große und Ganze. Sie haben den Konflikt auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen“, sagt Wilm.

Einem Teil der Männer ist aber aufgegangen, dass sie auf das Angebot des Senats eingehen mussten, wenn sie in Hamburg bleiben wollten. Sie hatten bis zum 30. Juni 2014 Zeit, einen Antrag auf Bleiberecht aus humanitären Gründen zu stellen. Andreas Listowell hat es getan. Viele andere haben es nicht getan. Sie sind untergetaucht. In Hamburg oder in anderen deutschen Großstädten. Einige sind zurück nach Italien gegangen. Zum Teil freiwillig. Einige wenige sind von den Behörden zurückgebracht worden.

Listowell wohnt in einer Flüchtlingsunterkunft in Volksdorf. Zwei Männer teilen sich dort ein Zimmer und vier Bewohner eine Küche. Fünfmal pro Woche fährt er mit der Bahn in die Innenstadt, wo er als Praktikant in einer Werbeagentur in der Mediaplanung arbeitet. „Ohne Bezahlung.“ Denn noch darf er kein Geld verdienen. Pastor Wilm hat ihm und anderen geduldeten Flüchtlingen über die Unterstützerszene Praktika vermittelt. Außerdem spielt er im Thalia Theater im Jelinek-Stück „Die Schutzbefohlenen“ mit.

Einmal pro Woche trifft sich Andreas Listowell mit Männern aus seiner Gruppe in der St. Pauli Kirche. So bleibt man in Kontakt. „Ich lebe nach dem Prinzip Hoffnung. Ich will hier bleiben. Ich will mich hier integrieren und selbstständig leben“, sagt Listowell. Er sagt, er habe viele Menschen, die ihn unterstützen würden. Einer davon ist ein Regisseur, und kommendes Jahr ist Listowell in einem „Tatort“ mit Wotan Wilke Möhring in der ARD zu sehen. Er spielt einen Flüchtling, dessen Freund von Polizisten getötet wurde. Die Schauspielerei sei zwar ein angenehmer Zeitvertreib. Aber eigentlich möchte er ganz normal leben. „Ich hätte gern einen Job im Marketing.“