Hamburger Begegnungen: In Teil 11 unserer Serie tauschen sich Thomas Klischan und Michael Wendt aus

Neustadt. Der eine hat sich zur Feier des Tages einen Schlips umgebunden – erstmals in diesem Jahr. Seinen Leih-Smart in einer Seitenstraße geparkt, stand er zuerst irrtümlich vor dem Lieferanteneingang des vornehmen Übersee-Clubs. Der andere überlegt gerade, wie er die Bundeskanzlerin für eine Veranstaltung gewinnen und die Altvorderen im Verein davon überzeugen kann, dass in der weißen Villa am Neuen Jungfernstieg der Krawattenzwang zumindest mittags ein bisschen gelockert wird. So hat jeder seine Sorgen.

Auch wenn Welten zwischen den beiden Herren liegen mögen, verstehen sich beide Seiten wunderbar. Von der ersten Minute an. Man muss nur wollen und frei im Kopf sein. Thomas Klischan wirkt als Geschäftsführer des Übersee-Clubs, einer seit 1922 etablierten Institution, die hanseatischer nicht sein könnte. Michael Wendt hat als Geschäftsführer des Stadtteil- und Kulturzentrums Motte in Ottensen einen exzellenten Ruf als umsetzungsstarker Aktivist vor Ort. Nicht nur die „altonale“, eine der buntesten und beliebtesten Fiestas der Stadt, ist sein Baby.

Folglich handelt es sich um die Idealbesetzung für Teil elf der Hamburger Begegnungen. Menschen aus einem Metier, die unter gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen arbeiten, reichen sich die Hände, setzten sich in Ruhe an einen Tisch und tauschen sich aus. Toleranz, Freigeist, Interesse am Schaffen des anderen und Blicke über den Tellerrand gehören dazu. Berührungsängste? Was ist das denn?

Der Mann von der Motte hat keinerlei Probleme mit dem andersartigen Parkett. Aufgeschlossen und selbstbewusst lässt er sich vom Kollegen Klischan durch die für ihn fremde Welt des Amsinck-Hauses mit vornehmem Sitz direkt an der Binnenalster führen. Kaum war der auf einer polierten Messingplatte diskret angebrachte Klingelknopf gedrückt, öffnete ein freundlicher Herr in schwarzem Anzug die schwere Holztür. Er nahm die Mäntel in Empfang und ließ sodann seinem Chef den Vortritt: Thomas Klischan zeigt sein Reich. Dicke Teppiche dämpfen den Schritt.

Der Clubraum im Erdgeschoss ist gediegen eingerichtet: Ledersessel, kleine Tische mit dem höflich gehaltenen Hinweis, bitte nicht zu rauchen, eine gut bestückte Bar, Ölgemälde mit meist maritimen Motiven an den Wänden. Auf einem ist der Bankier Max Warburg abgebildet, der Gründer des noblen Clubs. Erster Präsident anno 1922 war der spätere Reichskanzler Wilhelm Cuno. In der Folgezeit waren Granden wie Adenauer, de Gaulle, Brandt, Arafat oder der spätere Papst Joseph Ratzinger Gäste der Institution.

Umgekehrt hat auch die Motte in Ottensen einen ausgezeichneten Ruf. Nur anders. Natürlich waren in den vergangenen Jahrzehnten praktisch jeder Bürgermeister und viele Senatoren mindestens einmal vor Ort. Wichtiger noch: In Altona möchte keiner dieses lebensnahe, nachbarschaftliche Zentrum missen. 1976 ins Leben gerufen, sind die Ziele unverändert: Förderung kultureller Bildung und Medienkompetenz, Betreuung von Kindern und Jugendlichen, Beratungen und alle möglichen Veranstaltungen zum Beispiel. Werkstätten für Video, Foto, Siebdruck, Töpfern gehören dazu.

Als Wendt auf dem Weg in den ersten Stock des Übersee-Clubs von einem Motte-Nachbarschaftsgarten, einem Hof mit 30 Hühnern und einer Imkerei mit jährlich 160 Kilogramm Honig berichtet, staunt Klischan nicht schlecht. Und für die Eier gibt’s sogar einen Verkaufsautomaten. Das hat er nun wieder nicht zu bieten. Beeindruckt bittet er seinen Besucher durch das Restaurant in den Roten Salon. Nicht nur der Alsterblick ist vom Feinsten. Ein dienstbarer Geist fragt nach Wünschen wie Tee oder Kaffee.

Jetzt geht’s richtig los. Keiner der beiden hat ja das Terrain des anderen betreten – entsprechend groß ist die Wissbegierde. Das Team der Motte ist größer: 22 feste, etwa 35 freie Mitarbeiter für die Projekte sowie 65 fest in den Werkstattbetrieb eingebundene Ehrenamtliche. Im Club arbeiten drei Damen im Sekretariat plus zwei Herren am Empfang. Das war’s. Hinzu kommen ein knappes Dutzend Angestellte der Gastronomie, die unter der Regie des Atlantic-Hotels läuft. Dagegen ist der Jahresetat hier wie dort ähnlich hoch: eine Million Euro. Der Übersee-Club residiert zur Miete und verfügt über finanzielle Reserven. 2200 Mitglieder, jedes siebte eine Frau, zahlen pro Jahr 350 Euro Beitrag. Novizen brauchen jeweils zwei Bürgen. Um nicht zu vergreisen, dürfen Aufnahmeanträge nur von unter 55-Jährigen gestellt werden.

Beim Stichwort Rücklagen lacht Michael Wendt gequält auf: Von diesem Luxus kann er nur träumen. Sein gemeinnütziger Verein wird von 167 Mitgliedern getragen, deren Ansatz idealistisch ist. Rund 85 Prozent des Budgets fließen aus öffentlichen Mitteln, beispielsweise von der Kulturbehörde oder aus EU-Töpfen. Klischan will mehr wissen. Ja, auch die Motte lebt zur Miete. Das Haus gehört einer Familie außerhalb Hamburgs; der Vertrag läuft bis 2039. Das zumindest schafft Sicherheit. Bei einer Quadratmetermiete von leicht über zwei Euro ist nun der Übersee-Geschäftsführer an der Reihe, verblüfft zu gucken.

Während der Club in seiner Villa knapp 1000 Quadratmeter Platz hat, ist die Motte auf 2500 Quadratmetern zu Hause. Die günstige Miete in Ottensen jedoch, ergänzt Wendt, basiere auf enormen Eigenmitteln zur weitgehenden Renovierung des Gebäudes an der Eulenstraße. Von den Kosten in Höhe von 2,3 Millionen Euro mussten die Motten-Mitstreiter 600.000 Euro selbst beschaffen. Das hat Kraft wie Nerven gekostet.

Neuer Kaffee. Nachfragen. „Wie sieht Ihr Alltag aus“, fragt Michael Wendt sein Gegenüber. Dieser erläutert sein persönliches Glück, als Ruheständler mit gesetzlicher Rente relativ frei zu sein. In der Praxis bedeutet das: Je nach Lust, Laune und Aufgaben zwei bis drei Tage im Kontor, in der Regel so zehn bis 17 Uhr. Im Vergleich zu früheren Zeiten mit locker 50 Wochenstunden herrschen nun komfortable Arbeitsbedingungen. Denn das ist klar: Mit 67 Jahren müsste er eigentlich gar nicht mehr.

„Ich bin bemüht, mein Pensum pro Tag auf neun Stunden zu reduzieren“, wirft Michael Wendt kleinlaut ein. Damit meint er die reine Bürozeit etwa zwischen neun und 18 Uhr. Hinzu kommen Einsätze im Netzwerk, also bei allen möglichen Mitstreitern und anderen Projekten, gewiss an drei bis vier Abenden pro Woche – vom Engagement am Wochenende noch gar nicht zu reden. „Das geht nur mit Leidenschaft und Herzblut“, kommentiert Kollege Klischan. Wendt nickt. „Ist bei Ihnen ja nicht anders“, entgegnet er.

Und wie sieht dieses beiderseitig außerordentliche Engagement konkret aus? „Die Mülltonnen ziehe ich heute nicht mehr an den Straßenrand“, antwortet Motte-Motor Wendt, „aber den Schraubenzieher nehme ich durchaus noch in die Hand.“ Generelle Pflichtgebiete sind Organisation, Verwaltung, Personal sowie der permanente Kampf um Geld. Als Kür bezeichnet er die fantasievolle Entwicklung neuer Projekte und das Knüpfen neuer Kontakte. Meist stehen 40 Termine in der Woche im Kalender, davon rund ein Dutzend außerhalb des Stadtteilzentrums.

Das mit Pflicht und Kür gefällt Thomas Klischan, also bleibt auch er im Bild. Berichtet von Verwaltung, Mitgliederpflege sowie Präsenz in der Hansestadt. „Verbeugungsdirektor“, bezeichnet er Letzteres augenzwinkernd. Inbrünstig kümmert er sich um jährlich 30 Vortragsveranstaltungen und um den Überseetag des Clubs im kommenden Jahr. Als Rednerin ist die Kanzlerin angefragt. Siehe oben. Und selbstverständlich verlangt eine Vereinigung wie der Übersee-Club Beziehungen in die ganze Welt. Auch dieser internationale Spiritus ist der Kick, keine Frage. „Wir sind eben kein Wirtschaftsclub“, betont Klischan. Der Ursprung seien die Vorträge über Gott und die Welt.

Bis 72 Jahre dürfen im Amsinck-Haus Ämter bekleidet werden, dann ist Schluss damit. Also hat Thomas Klischan noch knapp fünf Jahre Zeit, seine Ziele in die Tat umzusetzen – in Allianz mit dem ehrenamtlichen Vorstand. „Wir wollen ein Traditionsclub mit moderner Ausrichtung sein“, stellt er klar. Verjüngung ist eine Voraussetzung. Und die weniger Alten bei der Stange zu halten, eine andere. Klischan sagt es nicht so, aber seine Mimik verrät mehr als viele Worte: Gar nicht so leicht umzusetzen diese Aufgabe. Die erwähnte Lockerung der Krawattenpflicht ist nur ein Instrument. Ein entsprechender Präsidiumsbeschluss ist in Sicht.

Michael Wendt kennt das. Nur von der anderen Seite. Als er in der Anfangsphase Briefe mit Geschäftsführer unterzeichnete, wertete das mancher im Team als elitären Anspruch. Nein, auch Michael Wendt hat’s nicht immer leicht. Er spricht von einem Korsett und bekennt klipp und klar, dass die ewige Fahndung nach Geld Sorge bereitet und Energie frisst. Zuletzt 40.000 Euro Defizit sind eine Menge für ein selbstverwaltetes Zentrum. Anderseits waren es im Vorjahr 85.000 Euro. Und der Etat für 2015 sieht minus 15.000 Euro vor. Optimisten erkennen daran einen klaren Aufwärtstrend.

Darauf ein Schälchen dieser sündhaft köstlichen Schokomousse, die der freundliche Kellner reicht. Der Schlussakzent der unkonventionellen, bereichernden Hamburger Begegnung soll die süße Seite der Tätigkeit sein. „Ich fühle mich frei“, bringt es Klischan auf den Punkt. Kreativer Geist könne zielgerichtet umgesetzt werden. „Ich kann ebenfalls Sinnvolles anstoßen“, sagt Wendt. Er liebe dieses kunterbunte Leben mit vielfältigen Aufgaben und ständig wechselnden Themen.

„Ich möchte die Motte gerne mal kennenlernen“, sagt Thomas Klischan. „Herzlich willkommen!“, antwortet Michael Wendt prompt. Rasch soll ein Termin vereinbart werden. Umgekehrt nimmt der Gast aus Ottensen spontan die Einladung an, Anfang kommenden Jahres einen Vortrag im Übersee-Club über die Motte zu halten. Das wird dann eine Hamburger Begegnung mit Verlängerung. Und vielleicht ist dann ja auch schon die Krawattenpflicht gelockert...