Der bislang eher alternative Stadtteil verändert sich rasant. Viele Mieter können sich nicht mehr leisten, hier zu leben oder zu arbeiten

Ottensen. Jetzt ist er schon mehr als 70 Jahre alt, und doch muss er immer noch im Laden stehen. Muzaffer Sinar rückt im kalten Wind seine Mütze zurück. Äpfel, Tomaten, gelbe, rote Paprika sind schräg auf den Kisten vor dem Gemüseladen aufgeschichtet. 2000 Euro Miete müsse sein Sohn nun schon zahlen, immer mehr, sagt er: „Da arbeitet man nur für die Miete, und ich muss weiter helfen.“ Aber noch hält sich das kleine Eckgeschäft an der Bahrenfelder Straße. Ist Teil der bunten Ottenser Mischung, wie sie hier sagen. Gründerzeithäuser aus der Zeit der Industrialisierung reihen sich an den krummen Straßen des Altonaer Stadtteils, immer wieder abgelöst durch zwei- oder dreigeschossige Gebäude, die offensichtlich Kriegsschäden ersetzt haben. Hin und wieder ragen dazwischen auch die kastenartigen Neubauten von heute auf. Weinläden, Gemüsekioske, Buchläden, immer wieder Bars und Restaurants wechseln sich in den Erdgeschossflächen ab. „Unser Dorf“, sagen die Anwohner.

In Wahrheit ist Ottensen längst eine der begehrtesten urbanen Wohnlagen Hamburgs. Noch in den 1970er- und 80er-Jahren prägten Industriebetriebe das Viertel, enge Höfe und dunkle, kleine Wohnungen der Arbeiter gab es hier vor allem. Dann aber wurden die teils maroden Gebäude saniert, den Migranten, Künstlern und Studenten folgten Designer, Lehrer, Medienleute. Eine stete Veränderung. Doch in jüngster Zeit scheint die Entwicklung geradezu zu explodieren. Wie einst in den 70er-Jahren, als die studentischen Neubewohner gegen gigantische Abrisspläne zu Felde zogen, formiert sich angesichts etlicher Pläne wieder heftiger Anwohnerwiderstand.

Luxusapartments und hohe Gewerbemieten würden die Verteuerung immer weiter anfachen, heißt es. Vom „Turbokapitalismus“, der hier gerade eingesetzt habe, spricht die Historikern Elisabeth von Dücker, die 1980 bereits in das Viertel gezogen war und sich damals schon für den Erhalt engagierte. Tatsächlich scheint in Ottensen gerade eine Art Betongoldturbo die Entwicklung anzuheizen. Die Investoren schauen eben besonders dorthin, wo die Nachfrage groß ist, sagt der Altonaer CDU-Bauexperte Sven Hielscher.

Lichterketten, große Plakate, Bürgerbegehren, Klagen – so versuchen Anwohner nun, etwas zu stoppen, was unaufhaltsam erscheint. Lieb gewonnene Läden schließen über Nacht, weil die Mieten nicht mehr gezahlt werden können. Preise für neue Wohnungen schießen in die Höhe. 14 Euro kalt pro Quadratmeter für einfache Wohnungen – das sei inzwischen üblich, heißt es. „Unser Dorf ist bedroht“, sagt Hauke Sann, Mitbegründer der Initiative „Pro Wohnen Ottensen“, und zählt die Geschäfte auf, die gerade erst verschwanden: das Restaurant Teufelsküche, die Szenekneipe Insbeth, das Café Veloso, der Buchladen Nautilus, der alte Lottoladen ...

Gerüchte machen die Runde: Der Gemüseladen an der Bahrenfelder Straße müsse schließen, erzählt man sich. Der Italiener Mamma Mia an der Barner Straße habe ebenfalls schon eine Kündigung erhalten. Dem Griechen nebenan drohe das Gleiche. Beide gelten als Institutionen in Ottensen. Und selbst in der Bezirkspolitik gehen Spekulationen um, wonach Investoren auch auf die Ecke mit dem Penny-Supermarkt und der legendären Bar Aurel ein Auge geworfen hätten.

Nicht immer stimmen solche Befürchtungen, aber ihnen liegt oft ein wahrer Kern zugrunde: Der Gemüsemann muss nicht schließen, hat allerdings eben die Mieterhöhung bekommen. Und ein Kollege eine Straßenecke weiter musste aufgeben. Der Italiener und der Grieche haben noch Mietverträge bis mindestens 2017 und länger. Tatsächlich wurde das Areal an der Barner Straße jedoch von einem Immobilien-Entwickler gekauft. Man habe „langfristige Interessen“ und würde die Öffentlichkeit einbinden, heißt es nun.

Offenbar auch eine Reaktion auf die heftigen Proteste, die sich vor allem an drei konkreten Projekten entzünden:

Schon länger sperrt sich eine Anwohnerinitiative gegen die Bebauung eines großen Innenhofs am Hohenzollernring. Man habe schon genug Luxuswohnungen im Stadtteil und brauche bezahlbare Wohnungen und weniger Verdichtung, so die Forderung der Initiative, die sich nach dem Bebauungsplan „Ottensen 60“ nennt.

Ganz ähnlich der Protest von „Pro Wohnen Ottensen“, der sich gegen die Bebauung des Zeise-Parkplatzes an der Friedensallee richtet: Statt wie im Sommer noch angekündigt, sollen dort doch keine Sozialwohnungen entstehen, sondern die Firmenzentrale des Werbekonzerns WPP mit fast 900 Arbeitsplätzen. Eine Kehrtwende, die viele in Ottensen als bewusste Täuschung durch Politik und Investoren verstehen. „Das verkraftet das Viertel nicht“, sagt Initiativensprecher Sann. Schon jetzt würden mit Blick auf das „Büro-Monstrum“ die Mieten ringsherum bereits steigen. Statt Gemüsehändler gebe es bald nur noch Caffè-Latte-Shops, sagt er. Sann arbeitet wie viele seiner Mitstreiter selbst in der Kreativbranche: „Werber wollen keine Werber“, heißt es daher schon einmal in der Politik. Doch so stimmt das nicht, sagt der 48-Jährige. Es gehe vielmehr darum, dass dann für die vielen Freiberufler keine bezahlbaren Flächen mehr blieben und die kleinteilige Gewerbestruktur Ottensens durch große Einheiten verdrängt würde. Erfolgreich hat die Initiative nun ein Bürgerbegehren auf den Weg gebracht und will gegen die Genehmigung des Projekts klagen.

Die Bezirkspolitik reagiert mit neuen Bebauungsplänen, die bremsen sollen

Ein anderer Protest entzündete sich gegen ein Bauprojekt, das nur wenige Meter weiter am Spritzenplatz liegt. Hier im Herzen des heutigen Ottensen hatte ein Investor kürzlich drei kleine Nachkriegsbauten gekauft und mit dem futuristischen Entwurf aus dem Büro des US-Star-Architekten Daniel Libeskind überrascht. Anfangs reagierte die Bezirkspolitik recht ratlos auf den so plötzlich anschwellenden Bürgerprotest, nur Die Linke stellte sich prompt an die Spitze der Bewegung.

„Wenn ein Pavillonbau aus der Nachkriegszeit nun ortsbildprägend sein soll, ist das schon komisch“, sagt etwa SPD-Planungspolitiker Henrik Strate. Wer jetzt protestiert, habe doch selbst von der Veränderung Ottensen schon profitiert, glaubt er. Von „der Angst vor Veränderung“, spricht CDU-Politiker Hielscher. „Das ist in Blankenese nicht anders“. Saturiert sei dieser Protest, heißt es schon einmal hinter vorgehaltener Hand. Eine Brücke versucht der Grünen-Politiker Christian Trede zu schlagen: „Die Angst vor Verdrängung nehmen wir sehr ernst, da sie hier Realität ist. Ottensen steht derzeit besonders im Fokus“, sagt er. Doch es gebe eben eine zweite Wahrheit daneben. Denn immerhin würden im Kerngebiet von Altona in den nächsten Jahren auch etwa 10.000 Wohnungen neu gebaut, davon viele gefördert.

Doch der Protest, zumal kurz vor der Bürgerschaftswahl, zeigt in Altona jetzt Wirkung. Für das Areal rund um das Mamma Mia an der Barner Straße soll nun nach einem Beschluss des Planungsausschusses ein neuer Bebauungsplan aufgestellt werden, der auch eine Beteiligung der Öffentlichkeit sicherstellt. „Wir wollen da planungsrechtlich einen Fuß in der Tür haben“, sagt Trede. Auch für das Gebiet rund um den geplanten Libeskind-Bau soll ein neuer Bebauungsplan auf den Weg gebracht werden, das Vorhaben könnte damit für eine ganze Weile auf Eis gelegt sein. Und für den Innenhof am Hohenzollernring fordert eine Mehrheit der Bezirkspolitik jetzt einen zusätzlichen Ideen-Wettbewerb, der ebenfalls mit „dem Viertel“, wie es heißt, diskutiert werden soll. Ob mit solchen Mitteln aber die Veränderung Ottensens aufzuhalten ist, ist fraglich. „Das Bezirksamt hat gar nicht mehr die Ressourcen, so viele Pläne in kurzer Zeit auf einmal anzugehen“, sagt SPD-Politiker Strate. Für ihn seien die größtenteils von anderen Parteien angestoßenen Forderungen vor allem Wahlkampf gegen die in Hamburg regierende SPD.

Doch es muss gar nicht immer das große Planer-Instrumentarium sein, sagten Initiativensprecher wie Hauke Sann und Elisabeth von Dücker. Beim Zeise-Parkplatz, immerhin ein Grundstück der Stadt, wäre es doch leicht gewesen, „dämpfend“ auf den Markt einzuwirken und nicht durch eine solche Ansiedelung selbst dafür zu sorgen, dass die Mieten so angeheizt werden. Behutsam müsse die Veränderung des Stadtteils geschehen, sagt auch Historikerin von Dücker. So wie bei der Restaurierung der Zeisefabrik. „Es ist doch letztlich die bunte Mischung, wegen der so viele Menschen hier gerne wohnen wollen.“ Nur noch neu und teuer – das zerstöre irgendwann das Gesicht des Stadtteils.