Ein ganzer Stadtteil sollte einem modernen Geschäftszentrum weichen – doch engagierte Hamburger verhinderten den Bau der City West.

Ottensen. An einigen Stellen kam der Widerstand zu spät: Für einen Durchbruch der Eulenstraße mussten an der Bahrenfelder Straße kleine Häuser fallen, um großen Plänen Platz zu machen. Denn Ottensen, damals als heruntergekommener Stadtteil berüchtigt, als „Mottenburg“ verrufen, sollte ganz anders werden: Der heute wohl beliebteste Stadtteil Hamburgs sollte einer modernen Bürostadt West weichen.

Unter diesem antiquiert klingenden Namen sollte Ottensen das bekommen, was in Winterhude bereits als Geschäftsstadt Nord im In- und Ausland gefeiert worden war: ein Büroviertel, das nach der damals gültigen Stadtplanungsdoktrin die Lebensbereiche Wohnen, Arbeiten und Erholen strikt trennte. Und weil neben der gegliederten Stadt Ende der 60er-Jahre auch die autogerechte Stadt ein Ideal war, sollte die neue Geschäftsstadt gleich auch einen großen Autobahnzubringer bekommen, der Schneisen in das Herz Ottensens geschlagen hätte.

Im Osten Altonas war die schöne neue Welt schon in Beton gegossen worden. Hier tobten sich die Modernisten aus – allen voran Chefplaner Ernst May, der den Krieg als „radikalen Neugestalter“ verstand und sämtliche „Slums“ schleifen wollte. 4000 vom Krieg verschonte Gründerzeitbauten wollte er in Altona abreißen lassen, es wurden am Ende nicht einmal die Hälfte. Doch „Neu-Altona“, eine aufgelockerte Wohnstadt, wuchs in den Hamburger Himmel. Unter dem Motto „Luft und Licht für die Arbeiterschicht“ ließen die Stadtväter auf zerbombten Flächen neue Wohnquartiere hochziehen, dazwischen wuchsen Grünflächen. Die Große Bergstraße verwandelte sich in eine beliebte Flaniermeile. Bei ihrer Eröffnung am 24.November 1966 galt die erste Fußgängerzone Hamburgs als „Attraktion von Altona“. Die Zeitgenossen überschlugen sich in ihren Hurra-Rufen, schwärmten von „Wagemut und Ideenreichtum“ oder dem „stolzen Beweis städteplanerischer Gestaltung“. Ottensen hingegen war zwar von den Bomben verschont geblieben, die Bagger sollten trotzdem rollen.

Fast der ganze Stadtteil Ottensen sollte der Abrissbirne zum Opfer fallen

Doch ihnen stellten sich die Menschen in den Weg. Einer von ihnen war Hans-Peter Strenge, der spätere Bezirksamtsleiter von Altona. Der Junge aus Rissen kannte Ottensen gut, weil dort seine Patentante wohnte. „Die Häuser rotteten vor sich hin, die Straßen sahen verheerend aus. Inmitten der engen Wohngebiete gab es eine Schiffsschraubenfabrik und andere Industriebetriebe, hinter der Fabrik war ein Obdachlosenlager.“ Das Viertel verwahrloste zusehends; noch immer waren Kriegsschäden nicht behoben worden, die Hausbesitzer investierten nicht mehr angesichts der großen Pläne, Mietverträge standen längst unter Vorbehalt. Mit den Häusern verfielen die Mieten – und das lockte ein streitlustiges Volk nach Ottensen: Studenten, Auszubildende, Künstler. „Das alte Ottensen sollte weg. Aber wir sahen, was hier möglich ist“, sagt Strenge. Als die City-West-Pläne 1969 öffentlich wurden, regte sich Widerstand. Studenten, aber auch alteingesessene Mottenburger machten gegen die Pläne mobil.

Im Brennpunkt der Kritik stand die gewerkschaftseigene Neue Heimat. In den Jahren zuvor hatte das Wohnungsbau-Unternehmen im Viertel vier Grundstücke der Kranfabrik Menck & Hambrock aufgekauft und plante an diesen Stellen vor allem Büros. 20- bis 30-geschossige Bürotürme sollten auf den Geestrücken gepflanzt werden nebst einer Trabantenstadt. Im Gebiet der Christianskirche sollte ein Kulturzentrum entstehen, nördlich des Bahnhofs Altona war ein Hubschrauberlandeplatz geplant. Abgesehen von den elbnahen Gründerzeitbauten sollte der ganze Stadtteil der Abrissbirne zum Opfer fallen. Die Straßenplanungen wirken aus heutiger Perspektive geradezu grotesk: Eine Trasse hätte quer durchs komplett überplante Osterkirchenviertel die Max-Brauer-Allee mit der Behringstraße in Höhe der Zeise-Hallen verbinden, eine vierspurige Hochstraße von der Ehrenberg- über Eulenstraße bis zur Reitbahn führen und von dort über die Bleickenallee bis zur Autobahn verschwenkt werden sollen. Der Busbahnhof hätte eine direkte Zufahrt zum Spritzenplatz bekommen. Asphalt statt Altbau.

Gemeinsam mit alten Ottensern bildeten die Studenten Arbeitskreise, demonstrierten, mischten als Jusos die Politik auf – und versuchten sich als Journalisten: „Ich erinnere noch, wie ich für zehn Pfennig am Sonnabend vor Hertie die Ottenser Zeitung verkaufte“, erzählt der damals langhaarige Strenge. Der Widerstand schlug Wellen bis in die SPD, die sich über die aufmüpfigen Jusos empörte. „Wir wurden schwer angemacht, galten als Schmuddelkinder“, erinnert sich Strenge, der selbst 1970 in die SPD eintrat. Doch die Revoluzzer hatten Erfolg: Bei einer Kampfabstimmung enterten die Jusos fünf von 20 Listenplätzen. Immer mehr Initiativen gründeten sich, Kinderläden wurden eröffnet, Kultureinrichtungen, Stadtteilgruppen. „Dokumentieren Sie ihren Stadtteil, solange er noch steht!“ lautete eine der Aufrufe oder „Ottensen kämpft – gegen Sanierung und Abriss“. Sie bildeten eine Bewegung, die nicht zu stoppen war.

„Wir haben Altonas Herz gerettet“, sagt heute Reiner Blaich, der von 1966 bis 1998 im Bauamt Altona gearbeitet hat, ab 1974 als Baudezernent. Zunächst stand er den großen Plänen sehr aufgeschlossen gegenüber, dann wuchs seine Skepsis. In dieser Zeit begannen die Städte umzudenken. „Wir wollten Ottensen erhalten, die Baubehörde hatte es schon aufgegeben“, erinnert er sich. Er machte sich daran, Alternativen zu den großen Plänen der Neuen Heimat zu entwickeln. „Wir suchten einen anderen Platz für die geplanten Hochhäuser und schlugen vor, sie auf Stelzen über den Gleisen des Bahnhofsgeländes in Altona zu errichten.“ Daraus wurde nichts, doch die monströsen Pläne wurden zunächst abgespeckt und verschwanden dann ganz in der Versenkung. „Das geschah auf Druck von oben wie unten“, sagt Blaich. In der Behördenspitze ging man auf Distanz, auf den Straßen wuchs der Widerstand. „Wir haben die Studenten nie als Gegner gesehen. Auch die Behörde kann sich langfristig der Einsicht der Bürger nicht entziehen.“

Die Bundesbahn zog ihre Abrisspläne gegen Widerstände durch

Ottensen hat wenig falsch, aber vieles richtig gemacht. Im „Unternehmen Mottenburg“ wurde ein Modell geschaffen. Die „Zeit“ hatte 1973 die Idee geboren, ein einsturzgefährdetes Quartier um die Karl-Theodor-Straße gemeinsam mit Bürgern, Architekten, Behörden und der Wohnungsbaugesellschaft Saga zu sanieren. Was nach Quadratur des Kreises klingt, gelang und wurde zur Initialzündung. Denn es verdeutlichte den Wohnungsbaugesellschaften, dass sich vermeintlich marode Altbauten mit Gemeinschaftsklos auf halber Treppe in attraktive Wohnungen verwandeln können. Statt der Sanierung mit der Abrissbirne kam diese nun „in kleinen Schritten“, als vorsichtige Stadterneuerung. 1976 stand plötzlich auch Geld für den Umbau der Ottenser Hauptstraße in eine Fußgängerzone zur Verfügung, ein weiterer Weckruf. Gastronomie, Kulturszene und Initiativen entdeckten die restaurierungsbedürftigen Fabrikgebäude und verwandelten sie in Restaurants, Clubs, Theater, politische Zentren – in diesen Jahren entstand die „Motte“ (1976) , die „Werkstatt 3“ (1979) oder die Fabrik (1971). Die Zeise-Hallen, die nach der Pleite der Schiffsschraubenfabrik 1979 lange Zeit leer standen, wurden schließlich zu einem Medien- und Kulturzentrum. „Dieser erfolgreiche Kampf ist bis heute für Ottensen identitätsstiftend“, sagt Strenge.

Während das Alte erhalten wurde, kamen die Pläne vom Neuen in den Reißwolf. Nur die Bundesbahn widersetzte sich dem neuen Denken. Sie zog den Abriss des alten Backstein-Bahnhofs durch. „Die Bahn hat ihre eigene Planungshoheit. Daran war nicht zu rütteln“, ärgert sich Blaich. Hier habe Spekulation eine gewichtige Rolle gespielt, weil das Kaufhaus, das dem neuen Bahnhof den neuen Namen Kaufbahnhof eintrug, den Wert des Grundstücks in die Höhe trieb. Auch Strenge bedauert den Abriss des Bahnhofs. „Er war nicht zu verhindern.“ Angesichts der ursprünglichen Pläne wirkt der Betonbau wie ein Denkmal blinder Fortschrittsgläubigkeit.