Hamburger Geheimnisse: Heute: Direkt neben der Fabrik beginnen die Gleise, auf denen früher sogar Fernzüge fuhren

Ottensen. Die Fabrik kennt jeder Hamburger. Seit 40 Jahren ist die alte Industriehalle in Ottensen fester Bestandteil des Musiklebens und für viele der schönste Konzertraum der Stadt. Was die meisten Konzertgänger übersehen: Nur ein paar Meter vom Haupteingang entfernt findet sich eines der wenigen erhaltenen Relikte aus der Zeit, als Ottensen ein Arbeiter- und Industrieviertel war. Und im Gegensatz zu heute so unbeliebt, dass „dort ohnehin nur wohnt, wer aus Berufsinteressen dazu genötigt ist“, wie der Magistrat der Stadt Altona 1898 befand. Das Relikt aus diesen Zeiten ist eine Bahnschiene.

Eine, die bei Hans-Uwe Seib ganz besondere Gefühle auslöst. Denn in ihr spiegelt sich seine Kindheit wider. „Eine Kindheit in den Trümmern der Stadt, aber eine sehr glückliche.“

Die leicht zu übersehende Bahnschiene war Teil eines Netzes, das sich durch den ganzen Stadtteil zog: die Ottensener Industriebahn. Geplant wurde sie in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts, als der immer größer werdende Lieferverkehr für die aufstrebende Industrie von den Pferdefuhrwerken nicht mehr bewältigt werden konnte – und Automobile noch nichts weiter waren als eine ziemlich verrückte Idee. Also wurden Gleise verlegt und Waggons angeschafft. Zur Einweihung der Bahn 1899 wurden die Wagen noch von Pferden gezogen, doch schon 1904 lösten Lokomotiven die unterlegenen Vierbeiner ab.

Die Abgase machten schon damals einigen Altonaern Sorgen. Frühe Umweltschützer gründeten eine Bürgerinitiative – auch wenn man das damals noch nicht so nannte – und sammelten Unterschriften. Vergebens. Der Magistrat meinte, dass all die Betriebe schon so viel Rauch aus ihren Schornsteinen bliesen, da käme es auf die paar Lokomotiven auch nicht mehr an. Generationen von Hausfrauen, die ihre saubere Wäsche zum Trocknen raushängten und sie manchmal verrußt wieder reinholen mussten, sahen das allerdings anders...

Das Streckennetz wurde rasch immer weiter ausgebaut, bis es 1956 schließlich 27,7 Kilometer umfasste. Mehr als 50 Firmen hatten Gleisanschluss und trugen zum Wirtschaftswunder bei. Damit einher ging die Motorisierung: Immer mehr Autos und Lastwagen fuhren durch die Straßen, die Bahn verlor an Bedeutung. Schon in den 1960er-Jahren ging es mit der Industriebahn bergab, 1981 wurde der Betrieb schließlich ganz eingestellt.

Als Hans-Uwe Seib die Bahn lieben lernte, war vom Wirtschaftswunder oder gar von Lkw-verstopften Straßen noch nichts zu spüren. Es war 1946, eine Zeit der Entbehrungen, die der damals Siebenjährige aber nicht so empfunden hat, obwohl sein Zuhause ein Barackenlager war. „Für uns war es ein riesiger Abenteuerspielplatz und die Bahn die größte Attraktion“, erzählt er. Immer wenn ein Zug kam, sind die Kinder neben ihm hergelaufen. „Bis wir völlig aus der Puste waren“, sagt Seib schmunzelnd. Nur aufzuspringen, das haben sie sich nicht getraut. „Das war etwas für die Erwachsenen“, erinnert sich der Ottensener.

Aber nicht bei der Schmalspurbahn, sondern auf der Fernbahnlinie – zum Kohlenklauen. Die Zugführer kannten die Not der frierenden Bevölkerung, und einige fuhren extra langsam. Dann sprangen die Leute auf, schaufelten so viele Kohlen wie möglich runter, sprangen wieder ab und sammelten sie mühsam wieder ein. „Aber da durfte ich nie mit, ich war noch zu klein“, sagt Hans-Uwe Seib.

Er hat damals mit Mutter und Großmutter in dem Barackenlager gewohnt. Eines der Häuschen steht auch heute noch: Wer dem kleinen Weg mit den alten Schienen folgt, sieht es gleich auf der linken Seite. Heute ist dort eine Kindertagesstätte untergebracht. Der Garten ist ein bisschen verwildert, und ein paar Schritte weiter ist ein Bauwagendorf als alternatives Wohnprojekt.

Mitten in der Großstadt liegt da eine grüne Oase, in der man sich vorkommt, als hätte man eine Zeitreise gemacht.